Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

Cover POP1

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN
: 978-3-756511-58-7

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

 

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

 Die Erfindung der Alphabet-Schrift

Mit dem Alphabet wurde die Schrift zu einem Instrument, mit dem beliebige Sprachlaute
jeder Sprache visuell genau repräsentiert werden können.
Mit Hilfe des Alphabets können beliebige Schrift-Worte konstruiert werden.
Als Schrift-Sprache werden die Sprachlaute unabhängig von körperlichen und visuellen Empfindungen, Worte werden fixiert und abstrahiert. In der Phase von 600 bis 300 v.u.Z. ist im griechischen Kulturbereich, der sich bis Kleinasien erstreckte, die Alphabet-Schrift und damit eine neue Verstandeskultur „erfunden“ worden, deren Wiederentdeckung tausend Jahre später mit der Renaissance das aufgeklärte und wissenschaftliche Denkens einleitete. Schrift-Sprache wird zum Medium einer Kultur des Denkens.
  

  

2020/2012

Die Repräsentation eines Lautes durch ein graphisches Symbol markiert einen erstaunlichen Entwicklungssprung des menschlichen Geistes. Die sumerischen Schriftzeichen waren - 3500 Jahre v.u.Z. - geschaffen worden, um Handelsbeziehungen zu dokumentieren, sie bildeten ein eingeschränktes Schriftsystem.

Der Ursprung der Schrift liegt in bildlichen Darstellungen, aus denen Bilderschriften entwickelt wurden. Piktogramme finden sich in altsumerischen, minoischen und altägyptischen Texten. Wer die Botschaft solcher ikonischer Bilddarstellungen „lesen“ will, muss den Kontext der Geschichte, um die es geht, und die Bedeutung der Figuren kennen. Im Altsumerischen galten dieselben Zeichen etwa für „Mund" und „Nahrung", sie signalisierten auch „essen" als Handlung. „Berg" und „Frau" bedeutete „Sklavenmädchen", weil die Sklavinnen aus den nördlichen Bergregionen kamen. Die Zeichen für „Mann" und „Pflug" bedeuten im Altsumerischen „Bauer". Die Anschauungsbilder hatten nur für den Kreis ihrer Adressaten eine selbst-verständliche Suggestivität.
Sumerische-Schrifttafel-241Sumerische Tontafel. Zur Entschlüsselung der Zeichen:

      Sumerische-schrifttafel1-Menge---135000-Liter   

  135.000 (Menge)

              Sumerische-schrifttafel2-Gerste  Gerste

Sumerische-schrifttafel3-Bilanz   
Bilanz

                    Sumerische-schrifttafel4-37-Monate   37 Monate

     Sumerische-schrifttafel5-Tauschhandel    Tauschhandel
                
Sumerische-schrifttafel2-Beamter-Kuschin   
    Kuschin (Zeichen des Beamten)     

 

Dieselben Bild-Zeichen konnten in verschiedenen Dialekten mit verschiedenen Laut-Worten assoziiert werden. Diese „Schrift“ verstand sich durch das Schriftbild ohne Umweg über einen Wort-Laut. Die Akkader belegten die sumerischen Zeichen mit den Lautformen ihres Dialekts.

Vor der Schrift war die Zahl

Die Regelung der städtischen Sozialbeziehungen erforderte eine Fixierung der Handelsbeziehungen, der Schulden und Ansprüche. Für den Tausch mussten Vergleichs-Bewertungen vorgenommen werden, dafür gab es Zahlen und Zahlzeichen, auch Hohlmaße für Getreide oder auch für Bier. Die berauschenden Getränke spielten eine Rolle beim Opfer, waren also so beliebt, dass man davon ausging, dass auch die Götter sie liebten.

Die sumerischen Schriftzeichen waren seit der Mitte des vierten Jahrtausends entwickelt worden, um Handelsbeziehungen zu dokumentieren. Sie bildeten ein eingeschränktes Schriftsystem. Mythen oder Gedichte konnte man damit nicht fixieren. Schrifttafeln, die allgemein gesprochene Sätze festhielten, sind erst aus der Zeit 1.000 Jahre später überliefert.

Symbolische Zeichen hatten ursprünglich die Funktion gehabt, bei kultischen Handlungen die magischen und göttlichen Kräfte bildhaft darzustellen. Sie wiesen auf etwas Bedeutsames hin, waren heilig und verkörperten übermenschliche Kräfte.

Thoth-Gott-der-Schreiber
Dies klingt zum Beispiel in der ägyptischen Mythologie nach, in der Thoth als Gott der Schreiber mit Pinseln, Palette und Vogelgesicht verehrt wurde. Diese Bildzeichen mussten vor allem die Priester lesen. Sie waren zum Teil an Stellen angebracht, an denen sie nur wenigen Menschen oder – in Gräbern – überhaupt nicht für potentielle Leser zugänglich waren.
Die mesopotamischen und ägyptischen Schriftzeichen waren solche allgemeinen Keilschrift- und Hieroglyphen-Zeichen. Logogramme und Piktogramme wurden beibehalten, ein und derselbe Laut wurde durch eine Vielzahl von Zeichen dargestellt.
Wenn die symbolischen Zeichen zwischen dem 10. und dem 5. Jahrtausend zunehmend als Informationsträger zur Signierung von Eigentum oder als Gedächtnisstütze für Schulden und Leihgaben verwendet wurden, ist das ein großer Schritt der Profanisierung der symbolischen Zeichen. Diese Zeichen traten an die Stelle direkter Kommunikation, um die Sozialbeziehungen von größeren Menschengruppen zuverlässig zu regeln. Schriftliche Fixierungen garantieren Ansprüche auch in Abwesenheit der Vertragspartner und sie unterliegen keiner räumlichen Begrenzung. Mit Schriftzeichen wurden Absprachen, Verbindlichkeiten, Schulden, Befehle, Urteilen und Erbschaften fixiert. Die Stadtstaaten und insbesondere die vorderasiatischen Großreiche, wie zum Beispiel dem der Hethiter, sind ohne Schrift undenkbar.

 

Thoth - Gott der Schreiber

 

Neue Sozialbeziehungen beim Übergang zu Stadtstaaten …

Catal-Hüyük, am Ufer eines Flusses im Süden der heutigen Türkei gelegen, war um 8.500 v.u.Z. offenbar eine dicht besiedelte Stadt. Archäologische Schmuck-Funde weisen darauf hin, dass es sogar eine handwerkliche Produktion für die Präsentation des Schönheits-Gefühls und damit des Selbstgefühls gab: Mit Vorliebe wurde Obsidian bearbeitet, ein glasartiges, dunkelolivgrünes vulkanisches Gestein, aus dem man neben Schmuck auch spiegelnde Flächen, Messer und wertvolle Kultgegenstände herstellte.

Viele Figürchen wurden gefunden bei den Ausgrabungen in Catal-Hüyük, vermutlich kleine göttliche Ikonen. Götterfiguren gab es in archaischen Kulturen für alle Lebensbereiche. Insbesondere die Töpferei hatte ihre Gottheit, der Gott Chnum der Ägypter hatte einen Widderkopf und war als Schöpfer aller Dinge ein Töpfer. Das entspricht dem archaischen Analogie-Denken: Wie der Töpfer die Schalen und Vasen aus Lehm forme, so stellte man sich die Schöpfung insgesamt vor. Die mesopotamische Göttin Araru schuf den Menschen aus einem Klümpchen Ton. Und die späteren jüdischen Propheten predigten: „Herr, du bist unser Vater; wir sind der Ton, du bist der Töpfer; und wir alle sind deiner Hände Werk." (Jesaja 64)

Im vierten Jahrtausend waren vor allem in Uruk dichtere Besiedlungen entstanden, zwölf „sumerische“ Städte. Allein Uruk hatte um 2.800 v.u.Z. rund 50.000 Einwohner, die Stadt muss attraktiv gewesen sein. Sie bot Sicherheit für Sippen oder Familiengruppen – und ermöglichte auch Sicherheit außerhalb der Großfamilie. Als oberste Gottheit wurde in Urik Inanna verehrt. Das Zentrum von Uruk war der Tempel, die Zikkurat. Die Priester der Tempel waren Unternehmer, Gläubiger und Richter. Der Tempel war auch ein handwerkliches Zentrum.  Planung und Bau waren eine große kulturelle Leistung, tausende von Menschen mussten versorgt und zur Arbeit angehalten werden. Es gab Handwerker-Zünfte mit ihren Symbolen. Gehandelt wurde im Lande Sumer mit Obsidian, Kupfer, Gewürzen, Holz, Fellen und vielem anderen.

… und der lange Weg zum Alphabet

Die Vielfalt der Wahrnehmungen war ursprünglich mit einer Vielfalt von symbolischen Zeichen dargestellt worden. Die frühen Schrift-Zeichen waren schwer lesbar, es gab Einlaut-Zeichen und Zweilaut-Zeichen, Vokale fehlten, so gab es viele Schriftzeichen, die unterschiedlichen Laut-Worten zugeordnet werden konnten und also verschiedene Bedeutung haben konnten. Zusätzliche Zeichen sollten diese Unklarheiten verringern.

Es hat 3.000 Jahre gedauert, bis aus diesen Schrift-Formen ein fixiertes Alphabet mit zwei Dutzend Zeichen wurde. In der Alphabetschrift  steht ein Zeichen nicht mehr für Objekt, sondern für einen Laut, für ein Phonem.

In der Mitte des 3. Jahrtausends hatte die vor allem aus Bildsymbolen bestehende sumerische Schrift etwa 2.000 Zeichen. 500 Jahre später verfügte diese Schrift  überwiegend über Lautsymbole und bestand aus 800 Symbolen bei deutlich erhöhter Komplexität dessen, was schriftlich kommuniziert wurde. Der geringere Vorrat abstrakterer Zeichen vergrößert also die Ausdrucksfähigkeit der Schrift, weil er neue Kombinationen der Lautsymbole ermöglicht.

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Tönnchenförmige Bauurkunde
mit Keilschrift - gebrannter Ton
aus der Zeit König Nebukadnezars II,  604–562 v.u.Z.
                   Foto: Olaf M. Teßmer

 

 



Entwicklung der Schrift bedeutet also: Die Zeichen sind in geringerem Maße vom Kontext abhängig, sie werden Mittel einer beliebigen menschlichen Mitteilung. Zeichen stehen nicht mehr für die bildliche, sondern für die akustische Repräsentation der Mitteilung, also für den Sprechlaut. 

Die ägyptischen Hieroglyphen und das ägyptische Rebus-System stellen in diesem Zusammenhang eine Mischform dar, die den Entwicklungsprozess deutlich macht. Rebus-System bedeutet: Ein Gegenstand wurde abgebildet und das Zeichen steht für den Anfangs-Laut des Wortes. Der Stierkopf (phönizisch Aleph) bezeichnet den Laut-Buchstaben A, das Haus (phönizisch Bet) den Laut-Buchstaben B. 

Frühe profane Gesetzestafeln

Frühe städtische Ballungsräume erforderten eine für alle verbindliche Regelung der Sozialbeziehungen. Ausdruck davon ist der älteste überlieferte Gesetzeskodex, der Codex Ur-Nammu in sumerischer Sprache, datiert auf die Zeit um 2100 v.u.Z. und vermutlich verfasst im Auftrage des Königs Ur-Nammu von Ur in Mesopotamien. Es handelt sich dabei um ein frühes „bürgerliches Gesetzbuch“, geregelt werden die Folgen von Mord, Raub, Vergewaltigung und Ehebruch und von falschen Anschuldigungen. Geregelt wird das Ehe- und Scheidungsrecht, die Miete für Ochsen und Felder, Darlehen/Zins, Erbe und die Stellung der Sklaven. Auch die Vernachlässigung des Hauses und des gepachteten Feldes wird geahndet. Lang ist der Katalog der körperlichen Züchtigungen und Verstümmelungsarten.
Spätere Gesetzestafeln wie die von Eschnunna oder der Codex Hammurabi (ca. 1.700 v.u.Z.) sind ähnlich in ihrer Art. Die Buchstaben wurden in Stein gemeißelt, für ihren Ursprung gab es göttlich-königliche Erzählungen.
Aus der Zeit um die Wende von zweiten Jahrtausend stammen auch die Erzählungen, die als „Gilgamesch-Epos“ überliefert und immer wieder in verschiedenen Versionen schriftlich fixiert wurden. Sie handeln von den Göttergestalten und der göttlichen Ordnung der menschlichen Dinge. Es sind Versuche der geistigen Beherrschung der Erdenwelt.

Erfindung der Alphabetschrift

Ein rein phonetisches Schriftsystem – „so leicht wie das ABC“ – wurde offenbar aus der Not erfunden - in weniger fortgeschrittenen Gesellschaften an den Rändern Ägyptens und Mesopotamiens und durch Kulturen, die sich der „fremden“ Zeichen einfach bedienten, um ihre eigene Sprachlaute schriftlich darzustellen. Die phonetische Interpretation der fremden Schriftzeichen sollte ihre Rede imitieren.

In den Tempelanlagen von Serabit el-Chadim auf der Sinai-Halbinsel sind die ältesten Hinweise darauf gefunden worden, wie aus den Hieroglyphen eine Alphabetschrift entstanden sein könnte. In diesem Kultort in der Steinwüste des Südwestsinai, der auch im Alten Testament erwähnt wird, wurde damals Kupfer und Türkis abgebaut. Ägyptische Expeditionen bedienten sich schon im 19. Jahrhundert v.u.Z. kanaanäischer Wanderarbeiter. Von diesen einfachen Beduinen stammen offenbar die 30 erhaltenen Schriftzeugnisse, die dort bisher gefunden wurden.

ShinxVon besonderer Bedeutung ist eine Sphinx-Statue, auf den im Jahre 1905 der Ägyptologe Flinders Petrie stieß. Die kanaanäischen Zeichen wurden 1915 von Alan Gardiner entziffert: Während die Hieroglyphen die ägyptische Göttin des Türkis – Hathor – preisen, sind in der kanaanäischen Übertragung die Laute für ihre eigene Göttin „Bacalat“, die Frau des Baal, in den Sandstein gemeißelt worden.

Sphinx SeiteDie kleine Shinx-Figur war der Schlüssel zur Entzifferung der kanaanitischen Zeichen: Unter dem Hieroglyphen-Lob für Hathor stand die Übertragung in einfache Symbole für die kanaanitischen Laute - zu Ehren der Göttin Bacalat

Kanaanäische Schriftzeichenrechts:
die frühesten kanaanitischen

Alphabet-Zeichen
aus Serabit el-Chadim,
British Museum, London 

Gefunden wurde auch eine „ägyptische“ Sitzstatue mit der kanaanäischen Beschriftung – einer Widmung für den Gott der Minenarbeiter. Offenbar waren die schriftlosen Viehhirten von der ägyptischen Hieroglyphen-Kultur fasziniert und übertrugen die ägyptischen Zeichen in stark vereinfachter Form in ihre Sprache.
Der Bonner Archäologe Ludwig Morenz (Die Genese der Alphabetschrift, 2011) ist davon überzeugt, und diese frühen kanaanäischen Zeichen das erste „Alphabet“ mit 23 bis 25 Konsonanten bildeten. Welche Bedeutung dieses protosinaitische Alphabet bekam, ist bisher nicht klar. 

Das phönizische und das griechische Alphabet

Erst Jahrhunderte später wurde die Idee des Alphabets durch die phönizischen Seefahrer verbreitet. Die phönizische Schrift von rechts nach links geschrieben, die Schrift umfasst 22 Konsonanten, die nach dem akrostichalen Prinzip gebildet sind: d. h. der Anlaut des Wortes für das zugrunde liegende Zeichen ist der Lautwert des Buchstabens. Die phönizischen Zeichen verraten eine Kontinuität zu den frühen kanaanäischen Zeichen. Die einfache Form des phönizischen Alphabet erleichterte es den Händlern aus verschiedenen Gegenden des Mittelmeerraumes, die Schriftzeichen leicht zu lernen. Es wurde mit Tinte auf Tonscherben oder Papyrus geschrieben.

phönizisch Kopie

Die Zeichen links - „beth”, (Haus) - stehen für das b, das an das heutige „m“ erinnernde mittleren Zeichen
sind Varianten des „mem“, rechts die mit dem Gleichheitszeichen beginnende Folge bedeutet „40”
- die Phönizische Schrift kannte auch komplizierte Zahl-Symbole.

Man muss diese Schrift mit anderen vergleichen, etwa der chinesischen, die zwischen 1500 und 1200 v.u.Z. entwickelt wurde und 70.000 Zeichen umfasste – immerhin wurden 3.000 zur gängigen Kommunikation benötigt -, um zu sehen, wie sensationell die Erfindung der Phönizier war. Diese Schrift hatte sich vollkommen gelöst von den Schrift-Bildern als Brücke zur Entzifferung der grafischen Symbole. 

Lesend wiedererkannt wird in der phonetischen Schrift eben nicht, was konzeptionell gemeint war, als ein Schreiber Zeichen auf dauerhaftes Material auftrug, nicht, was visuell vor des Lesers geistigem Auge stehen sollte, sondern was akustisch erklingen würde, wenn ein Sprecher das Schriftbild in Wort-Laute vertont.

Auf den Handelsrouten der Phönizier wanderte ihr Alphabet mit. Die Griechen nannten ihr Alphabet die „phönizischen Zeichen". Um für ihre Sprache die phonetische Eindeutigkeit zwischen Lautklang und Schriftzeichen herzustellen, fügten sich mit den phönizischen Zeichen, die sie für ihre Laute nicht brauchten, Vokalzeichen ein: Sie mussten die Vokalzeichen erfinden, weil sich in ihrer Sprache die Vokalisation nicht aus den Konsonanten-Lauten ergab.

Sowohl die altgriechischen als auch die hebräischen und arabischen Schriften haben sich aus dem Phönizischen entwickelt.

lautschrift Kopie

Inschrift auf einer Dipylon-Kanne: „netlahreseidllosredtznatntsgitumnamanreznätnedllanovnunrew“
„Wer nun von all den Tänzern am anmutigsten tanzt, der soll dies erhalten“

Diese Inschrift auf der Dipylon-Kanne aus Athen gilt als eine der ältesten griechischen Schriftzeugnisse und stammt aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v.u.Z. Die altgriechische Schrift verläuft wie die phönizische von rechts nach links. Die  phönizische Lautschrift war aber rein visuell nicht erfassbar, weil die Botschaft nicht optisch in Worte gegliedert ist. Wie Sprache vor ihrer Verschriftlichung ist der Schriftsatz für sich nicht in Abschnitte gegliedert,  Wortabstände fehlen. Es bleibt eine Schrift, die laut zu Gehör gebracht werden muss, um geistig verarbeitet zu werden.

Die meisten Forscher stimmen in der Ansicht überein, dass die Griechen um die Mitte oder gegen Ende des achten Jahrhunderts das rein konsonantische System der Phönizier übernahmen, möglicherweise im Handelshafen von al Mina. Bei vielen der erhalten gebliebenen frühen Schriftstücken handelt es sich um „erklärende Inschriften auf Gegenständen -Widmungen auf Opfern, Eigennamen auf Besitztümern, Inschriften auf Grabmälern, Namen von Figuren auf Zeichnungen“ (Jeffery).

Aufgrund Kombinierbarkeit der Zeichen ermöglicht dieses Alphabet eine große Ausdrucksfähigkeit der Schrift mit ganz einfachen Mitteln. Die Schriftzeichen symbolisieren „nicht die Gegenstände der sozialen und natürlichen Ordnung, sondern den Prozess der menschlichen Interaktion beim Sprechen: das Verb lässt sich ebenso leicht ausdrücken wie das Substantiv, und der schriftliche Wortschatz lässt sich leicht und ohne Mehrdeutigkeiten erweitern. Phonetische Systeme können daher jede Nuance individuellen Denkens ausdrücken; sie können persönliche Reaktionen ebenso aufzeichnen wie Dinge von größerer gesellschaftlicher Bedeutung. Eine nicht-phonetische Schrift hat dagegen eher die Tendenz, nur diejenigen Elemente des kulturellen Repertoires aufzuzeichnen und zu vergegenständlichen, die von der literalen Elite zur Symbolisierung im Medium der Schrift ausgewählt werden, und drückt daher eher die kollektive Einstellung zu diesen Elementen aus.“ (Goody/Watt)

Diese Schrift wird zum Ausgangspunkt neuer, abstrakter Denkstrukturen. Schließlich werden in Schrift vergegenständlichte Gedanken selbst Gegenstand des Nachdenkens von Menschen. „Man erkennt sofort, dass erst dieses Prinzip der Lautzeichenbildung die unmittelbare Fixierung abstrakter Begriffe in der Schrift ermöglicht.“  (Ferdinant Klix)

Schriftzeichen dienten zunächst als Fixierung von Zahlen oder Verdinglichung von Rede

Wortklang ist modulierter Ton, seine Elemente sind in eine Tonfolge gebracht Phoneme. Die Alphabetschrift ist nicht schlicht Lautschrift für diese Tonfolgen, sondern normiert die diffuse Welt der Laute. Sie strukturiert die Worte mit der reproduzierbaren Eindeutigkeit ihrer Zeichen.
Am Anfang haben Schriftzeichen nicht Wort-Laute in symbolischen Zeichen fixiert, sondern Schrift-Zeichen waren Bild-Zeichen, die im Verlaufe der Schrift-Geschichte abstrakter wurden. Erst nach 2000 Jahren Schrift-Geschichte wurde Schrift zu einer uns heute selbstverständlichen Art, den Wortklang grafisch zu symbolisieren und festzuhalten. 

Schrift war für die frühen Philosophen vor allem Gedächtnisstütze für Reden. Schrift löste die alte „architektonische Mnemotechnik“ ab, die klassische Gedächtniskunst, in der eine Verteilung der Themen in einem vorgestellten Raum wie eine Gliederung wirkte, deren Kapitel man abschreiten kann und sich so des nächsten Thema erinnert.
Die phonetische Schrift wurde nicht als ein visuelles Medium begriffen. „Die Schrift redet, sie ist ein Medium, welches man hört, obwohl man sie natürlich nur sehend lesen kann.“ (Eric Havelock) Vollkommen üblich war es insofern, die Tatsache, dass durch die Schrift jemand „spricht“, sprachlich deutlich zu machen, auf Grabsteinen findet man oft das Wort „ich“:  „Dasselbe Grab bewohne ich, Asteia aus Pisa, mit meinem Mann zusammen, Tochter des berühmten Philetor.“ Oder: „Ich bin die Stele des Xenares, Sohnes des Meixis, auf dem Grabe.“
Die Schriftzeichen dienten zur Fixierung einer Oralität, die sich selber langsam in Richtung Literalität modifizierte. Die primär oralen Sprach- und Denkformen waren als Speichertechnik noch lange nach der Erfindung des Alphabets in Gebrauch.
Aber das Medium Alphabetschrift zwang die gesprochene Sprache der Schrift-Gelehrten in ihren Rahmen. Mit der Alphabet-Schrift gewann die Sprache eine Stütze, die sie veränderte. Am Anfang war die Schrift der Knecht der Sprache, am Ende der Entwicklung beherrschte die Schrift die Sprache - für alle, deren Sprache vom Schriftgebrauch geprägt ist.

Warum gerade Griechenland?

Die beeindruckende und bis heute bewunderte griechische Kulturentwicklung war sozialgeschichtlich natürlich nicht voraussetzungslos: Athen war eine Gründung der Mykener, deren Städte schon mit Kanalisation ausgestattet waren und deren Toiletten Wasserspülung kannten. In den Archiven einer Mykenischen Königsburg sind Tontäfelchen mit Listen von mehr als 100 Berufen gefunden worden.

Als um das Jahr 1000 v.u.Z. die Dorer einfielen und die mykenische Siedlungen und zerstörten, wurde Athen zum Sammelbecken von Flüchtlingen. Die Migranten zogen in mehreren Wellen über 100 Jahre weiter nach Sizilien, auf die ägäischen Inseln und an die Westküste Kleinasiens. Milet wurde zu einem bedeutenden Zentrum des Handels und des Geisteslebens mit Heraklit und Anaximander, Thales und Pythagoras. Der Ostrand des Mittelmeeres wurde zum Schmelztiegel asiatischer, babylonisch-assyrischer, ägyptischer, hebräischer und minoisch-mykenischer Traditionen. 

Seit dem achten Jahrhundert war es zu einem großen Aufschwung ökonomischer Aktivitäten gekommen. Der Handel mit dem Osten brachte materiellen Wohlstand und technologischen Fortschritt. Der Handel mit Ägypten führte zur Einfuhr von Papyrus. Dadurch wurde das Schreiben einfacher und billiger. Papyrus war dauerhafter als Wachstafeln und leichter zu handhaben als der Stein oder Ton aus Mesopotamien und Mykenä. Die griechischen Kaufleute brauchten die Schrift für ihre Geschäfte, als Dokumente für Gesagtes und Vereinbartes. Pragmatische Interessen waren das entscheidende Motiv, nicht die in der heutigen Überlieferung zitierten literarischen Werke.
Die Griechen und ihr Stadtstaat Athen waren als kleines Volk immer wieder bedroht, umgeben von vielen Feinden. Aber ihre Verbindungslinen liefen über das Wasser – das dezentrale Netzwerk der griechischen Städte war nicht so einfach zu erobern. Wenn eine Stadt fiel, fiel nicht das Netzwerk insgesamt aus. Es gab keine Königshöfe gab, die in Versuchung waren, das geistige Leben aus Prestigegründen zu fördern und damit zu kontrollieren. Ein Drittel der Athener Bewohner waren Sklaven, aber die Elite bestand aus gleichberechtigten Männern. Die Philosophen waren freie Menschen, die von ihrem Renommee und den Entgelten ihrer Schüler lebten und damit von ihrer öffentlichen Anerkennung. 

Wahrheit und Tempelweisheit

Die griechische Mythologie musste nicht die Herrschaftsansprüche von Königshäusern legitimieren, das Bild der Götter wurde allzu menschlich – den Göttern wurde Diebstahl, Betrug, Vergewaltigung und Ehebruch nachgesagt. Die Götter waren damit im mentalen Herrschaftsgefüge verzichtbar – von dem Philosophen Protagoras wird ein Satz kolportiert, der seine Zeitgenossen geradezu ungeheuerlich klingen musste: „Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder dass es sie gibt, noch dass es sie nicht gibt."  Mit einer solchen Formulierung wird die Frage nach der Existenz Gottes der menschlichen Logik unterworfen. 

Schrift war in den vorgriechischen Kulturen privilegierendes Herrschaftswissen
 Einzelner gewesen und nie breit in der oralen Kultur der Gesellschaft verankert. Wertvolles Wissen um diese Kulturtechnik ging immer wieder verloren, und damit die jeweilige Kultur. Die soziokulturellen Strukturen dieser Gesellschaften standen einer  breiteren Ausbildung entgegen. Das trifft im alten Indien, Palästina oder auch in China zu, wo das Lesen und Schreiben fast ausschließlich den Priestern vorbehalten war. Die  Schrift diente der Konservierung der bestehenden religiös-kulturellen Traditionen.

Der entscheidende Unterschied der griechischen Schriftkultur etwa zu der jüdischen war, dass die griechischen Gelehrten nicht Priester und damit Autoritätspersonen waren, die mit ihrer Wahrheit Machtansprüche verbanden. Die ägyptischen wie die hebräischen Schriftzeichen waren Instrumente herrschaftlicher Repräsentation. Schriftlich symbolisiert wurden Gesetze, Erlasse, Akten, Rituale, und Opferstiftungen, also Diskurse der Macht.

Die griechischen Vordenker dagegen waren wohlhabende, interessierte Bürger. Sie entwickelten nicht eine Tempel-Wahrheit, die es zu hüten galt, sondern ihre jeweils persönliche Wahrheit, die sich im Wettstreit der Meinungen auf den Marktplätzen und in der Konkurrenz um Schüler bewähren musste. Die griechische Schriftkultur erwies sich daher als innovativ, dynamisch und entwicklungsfähig.

Griechische Anfänge „unserer“ phonetischen Schrift

Die profanen Gelehrten in den griechischen Städten waren offenbar fasziniert von der Schrift der Priesterkaste in der sumerisch-phönizischen Welt und den Aufschreibsystemen der Händler. Bei Platon lesen wir, wie der ägyptische Gott Theut seinem Pharao den Nutzen der Schrift erklärte: „Dies ist, mein König, ein Lehrgegenstand, der die Ägypter klüger machen und ihr Gedächtnis verbessern wird. Denn meine Erfindung ist ein Mittel für Gedächtnis und Wissen.“ Die griechischen Gelehrten benutzten deren Schreib-Symbole und ordneten ihnen die Phoneme aus ihrer Sprache zu. Bei der Nutzung der phönizischen Buchstaben für die griechische Sprache wurde das Fehlen der Vokalzeichen ein Problem. Schon die Phönizier im Sinai-Gebiet, die enge ägyptisch-semitische Sprach- und Kulturkontakte pflegten, hatten damit begonnen, fremde ägyptische Worte mit Vokal-Zeichen zu ergänzen oder zu verdeutlichen. Die Griechen haben dann die Konsonanten von ihren Vokal-Anhängen systematisch isoliert und die Schrift mit fünf Zeichen für Vokale ergänzt, um sie für ihre Sprache eindeutiger zu machen. Viele Unklarheiten in der hebräischen Bibel haben ihre Ursache darin, dass die semitische Schrift keine Vokale repräsentiert: Weil die Konsonanten in den entsprechenden hebräischen Wörtern dieselben sind, können es statt „Raben” ebenso gut „Araber” gewesen sein, die Elias Nahrung brachten.

Mit dem Alphabet wurde die Schrift zu einem Instrument, mit dem beliebige Sprachlaute jeder Sprache visuell genau repräsentiert werden konnte. Während ein Zeichen der Bilder-Schrift in verschiedenen Sprachen mit unterschiedlich Wort-Lauten wiedergegeben werden konnte, von ihrem visuellen Bezug aber „verstanden“ wurde, kann die alphabetische Schrift auch fremder Sprachen einigermaßen authentisch in Laute „übersetzt“ werden, deren Sinn aber durch die Laute nicht erschlossen wird. Jeder Lesekundige kann heute ein spanisches oder englisches Wort einigermaßen „lesen“, weiß aber nicht, was es bedeutet: „tree“, „arbol“ oder Baum. Hätten wir europaweit chinesische Bilderschrift-Zeichen mit dem Symbol eines Baumes, so könnten wir jedes fremde Buch verstehen – aber nicht akustisch vernehmbar „lesen“, weil jedem Bild-Zeichen je nach Dialekt ganz anderen Lauten zugeordnet wären. Das phonetische Verfahren bietet die Möglichkeit, nicht-gegenständliche Worte wie „nichts“, „kaum“ oder „nein“ genauso geschwind auszusprechen und genauso einfach zu notieren. Das phonetische Verfahren eignet sich für komplexe, abstrakte Inhalte. Die Griechen waren sich des phönizischen Ursprungs ihrer Art zu schreiben durchaus bewusst - „phöniziieren” war die altgriechische Bezeichnung für schreiben.

Wenn Platon noch die lebendige Rede gegen die tote Schrift lobte, muss man daraus schließen, dass er nicht erkannt hat, welche Revolution des Denkens die neue Medientechnik ermöglichte. Denn gerade er hatte Spaß an dem Spiel mit den Begriffen, die nicht mehr Abbilder von Wirklichkeit waren, sondern Abstraktionen, die abstrakter werdende Gedanken ermöglichten. Platons Ideen-Lehre ist ein Kind der Schrift-Kultur. Demokrit, Zeitgenosse von Platon, erfand die Idee, dass die Bausteine der Materie „Atome” seien, Dinge, die niemand je gesehen hatte oder sehen könnte, Undinge gleichsam, Abstraktionen, emergente Produkte der Schrift-Kultur. Aus ihnen wurden in der griechischen Kultur nicht Herrschafts-Mythen geflochten, sondern eher Denker-Mythen. Sozialprestige war ein Motiv für diese Entwicklung.

Die menschlichen Sprechwerkzeuge können zwar eine riesige Zahl von Lauten erzeugen, doch beruhen fast alle Sprach-Gemeinschaften auf dem formalen Wiedererkennen von rund vierzig dieser Laute. Offenbar ist dem Gehirn des 
homo sapiens eine ungeheure Lust an Muster-Bildungen und an Abstraktion. Dies
e Vorliebe für Strukturen führt auch zur Entwicklung von Regelhaftigkeiten - Grammatik - für die Sprache.

Die Lust am regelhaften, abstrahierendem Denken innerhalb einer elitären gesellschaftlichen Gruppe war die Triebfeder der antiken griechischen Philosophie - übrigens auch 1000 Jahre später bei den scholastischen Spitzfindigkeiten, aus deren intellektuellen Milieu die ersten Anstöße zur Renaissance entstanden, nachdem das Christentum als Herrschafts-Instrument des spätantiken Kaisertums eher zur Zerstörung der antiken geistigen Welt beigetragen hatte.

Griechische Schriftkultur: Homer, Sokrates, Platon

Mit den einem Autor „Homer” zugeschrieben Epen Ilias und Odyssee, die vermutlich von verschiedenen Verfassern aufgeschrieben wurden, ist das früheste literarische Werk in altgriechischer Schriftsprache überliefert. Schon Rousseau hatte die Frage gestellt, ob Homer (zwischen 750 und 650 v.u.Z.) schreiben konnte. Inzwischen ist klar, dass die unter diesem Namen tradierten Dichtungen zunächst mündlich überliefert wurden. Die Literaturwissenschaft wertet besondere Wiederholungsstrukturen und sprach-rhythmische Elemente als Hinweise auf diese Gattung von aufgeschriebenen Erzählungen. Erst hundert Jahre „nach Homer“ schrieb man sie auf; später sorgten hellenistische Gelehrte in der Bibliothek von Alexandria für die Schlussredaktion.

Ein breiter Schriftgebrauch hat sich seit dem siebten Jahrhundert entwickelt. Natürlich war auch die griechische Schrift des klassischen Zeitalters schwer zu entziffern, da die Wörter nicht immer in der gleichen Weise voneinander getrennt wurden. Das Abschreiben von Manuskripten war eine lange und mühsame Arbeit, in der antiken Welt wurden Bücher von einem Sklaven vorgelesen.

Vom sechsten Jahrhundert wurde Literalität im öffentlichen Leben Griechenlands und Ioniens für die Elite der freien Männer als selbstverständlich vorausgesetzt: Um das Jahr 594 erließ Solon in Athen die ersten Gesetze, die der allgemeine Öffentlichkeit noch durch Lesen zur Kenntnis gebracht wurden. Die Institution des Scherbengerichts im frühen fünften Jahrhundert setzt eine des Lesens und Schreibens kundige Bürgerschaft voraus - ehe eine Person verbannt werden konnte, mussten 6.000 Bürger den Namen dieser Person auf eine Scherbe schreiben. Aus dem fünften Jahrhundert gibt es eine Fülle von Hinweisen auf Schulen, in denen Lesen und Schreiben gelehrt wurden (Protagoras), sowie auf eine Bücher lesende Öffentlichkeit, über die sich Aristophanes (in „Die Frösche”, entstanden ca. 405) satirisch lustig gemacht hat. Durch ein Dekret des Archonten Eukleides im Jahre 403 wurde die endgültige Form des griechischen Alphabets offiziell in Athen eingeführt.

Das war die Zeit von Sokrates, der 398 gestorben ist. Er hat nichts geschrieben. Was Sokrates gelehrt hatte, hat Platon aufschreiben lassen, der im Jahre 387 seine „Akademie“ gründete. Erst unter den Bedingungen von Literalität konnte es zu reimlosen Prosaformen kommen. Platon aber schrieb nichts, ohne Sokrates reden zu lassen. Bei Platon gibt es gleichwohl keine Euphorie des Aufschreibens, gegen das ägyptische Lob der Schrift lässt er den begnadeten Redner Sokrates die Argumente für die Hochschätzung der oralen Tradition vortragen: „Buchstabengärtchen“ seien die Schriften, lässt Platon seinen Lehrer spotten, unbeseeltes Wissen. „Ist sie aber einmal geschrieben, so treibt sich (rollt) eine jede Rede (logos) überall herum, bei denen, die sie verstehen, ganz ebenso wie bei denen, für die es sich nicht ziemt, und sie weiß nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.“ Um die Wahrheit zu sagen, muss man „mit seinen eigenen Worten sprechen“, lässt Platon Sokrates sagen. Schrift allein kann kein Träger von Wahrheit sein. In der Rhetorik des Aristoteles (384-322) ist das Argument das wichtigste Überzeugungsmittel, neben dem Charakter des Redners und den Emotionen.  Dennoch kam es Aristoteles nicht in den Sinn, Schriften eine Überzeugungskraft zuzusprechen. 

Erst im dritten Jahrhundert entwickelte sich die uns heute selbstverständliche Form des individuellen Lesens, das aber meist ein Sich-selber-Vorlesen war. Bis ins Mittelalter war ein „stilles Lesen“ eine besondere Ausnahme. Die neue (attische) Schriftsprache (koine) verbreitet sich im 4. Jahrhundert in dem griechischen Kulturgebiet. Schließlich konnte in Athen jeder zweite freie Mann lesen und schreiben. Das Schrift-System musste mühsam erlernt werden, in den Nomoi setzt Platon (428-348)  dafür drei Jahre an, ungefähr dieselbe Zeit, in der in unseren Schulen heute das Lesen und Schreiben gelernt wird. Dionysios Thrax entwickelte im 2. Jahrhundert v.u.Z. eine Grammatik (Technē grammatikē, „grammatische Wissenschaft“) und eine Theorie des Lesens.

Erst langsam gewann die Schriftlichkeit die Oberhand - es hat 250 Jahre gedauert, bis die skriptographische Informationsverarbeitung ihre eigenen Stärken entwickelt und als Prestigeobjekt von der Gesellschaft anerkannt wurde. 

 

    vgl. auch meine Texte 
    Altägyptische Kultur des Erkennens MG-Link
    Orale Götterkultur: Klangrede und leichte Trance M-G-Link
    Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten   M-G-Link
    Über das Denken in Anschauungsformen, in Sprachsymbolen und in Mythen M-G-Link

    Zur Erfindung des „Textes” als Baustein für Wissensgebäude   M-G-Link

    vgl. zur Geschichte von Schriftkultur und Denken auch die Texte
    Denken mit Zahlen  M-G-Link
    Notizen zur Geschichte der Zahlen  M-G-Link
    Wie das Ich-Bewusstsein entstand  M-G-Link
    Das mythisch tickende, phantastische Gehirn M-G-Link
    Empedokles oder: Erkennen ist kugelrund  M-G-Link
    ASSMANN: Israel und die Erfindung der monotheistischen Schrift-Religion  Link
    ASSMANN: Griechenland und die Domestizierung des Denkens Link
    Phonetische Schrift und griechisches Denken  M-G-Link
    Die Kultur des Lesens in der griechisch-hellenistischen Welt (Chartier) Link
    Kultbild-Verehrung in der Antike  M-G-Link
    Die Zerstörung der antiken Buchkultur in der Herrschaftszeit des Christentums M-G-Link
    Luther und die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache  M-G-Link

    Lit.:
    Über die Etappen der Erfindung der Schrift informiert die Arte-Serie
    Saga der Schrift 1 (2019) - EP1 - Die Ursprünge
    https://youtu.be/sQy-Q_psTJ0
    Saga der Schrift 2 (2019) - EP2 – Imprimatur
      https://youtu.be/Pis79yIKtSA
       Korrekturhinweis dazu: Im zweiten Teil der Dokumentation wird der Eindruck erweckt, Gutenberg habe am Bibel-Druck verdient. Das ist falsch.
        Das Bibel-Projekt trug wesentlich zu seinem Konkurs bei. Verdient haben die frühen Drucker an religiösen Flugschriften. 
        Die erste Druckerei in Konstantinopel wurde von (christlichen) Griechen eröffnet. Ihnen war der Druck religiöser Schriften verboten. Das lag nicht an der Technik,
        sondern am Herrschaftsanspruch der Geistlichkeit. Mit profanen Druckwerken war ihr Betrieb nicht rentabel zu führen
        (das galt für die frühen Drucker der Gutenberg-Zeit genauso). Der wirtschaftlich erfolgreiche Druck profaner Bücher setzt eine verbreitete Lesefähigkeit voraus.
    Saga der Schrift 3 (2019) - EP3 - Eine neue Ära
    www.youtube.com/watch?v=N7lexMg94AI

    Schrift und Denken bei den Griechen:
    Jack Goody, Ian Watt, Entstehung und Folgen der Schriftkultur  (1997)
    Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte:
              Eine Medientheorie zu Oralität und Literalität  (2007)    
    pdf001ff,      pdf062ff
    Friedhart Klix, Erwachendes Denken. Geistige Leistungen aus entwicklungs-psychologischer 
       Sicht (1993)
    Walter J. Ong,  Oralität und Literalität  (1987)
    Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen (1946, 4. Auflage 1975) 
      
    Die Beziehung zwischen platonischen Denkens und der Entwicklung der Alphabetisierung beschreibt Havelock erstmals in seinem Buch
       „A preface to Plato” (1962), wo er schon ausdrücklich auf Snell Bezug nimmt. Der Aufsatz „The Consequences of Literacy”
       von Goody und Watt erschien im April 1963 und bezieht sich u.a. auf Havelocks Arbeiten. 
    Zu den machtpolitischen Hintergründen des monotheistischen jüdischen Denkens und die Andersartigkeit des griechischen Schrift-Denken empfiehlt sich die Arbeit von
    Jan Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis (1999),   Auszüge hier
      Israel und die Erfindung der monotheistischen Schrift-Religion
     - Link
      Die Disziplinierung des Denkens - aus Kapitel 7 (Seiten 258-301) Link
    Jan Assmann, Die Erfindung der Schrift (2003)
      https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/3101/1/Assmann_Die_Erfindung_der_Schrift_2003.pdf
    Stanislas Dahaene, Denken: Wie das Gehirn Bewusstsein schafft (2014)
    Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch: Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstsein (2011)