Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Volkskalender  - frühe Massenmedien
des „Infotainment”

5-2013

Offenbar gab es im 15. Jahrhundert das Bedürfnis, die neue Technik der preiswerten Flugzettel-Drucke für eine symbolische Darstellung des Jahresablaufs zu verwenden. Augsburg war bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine Hochburg des Kalenderdrucks. Der „Teutsche Kalender“ enthielt die neben den Jahreszeit-Angaben auch astronomische, medizinische und meteorologische Informationen.
Kalenderblätter wurden zunehmend attraktiver mit Holzschnitten ausgestaltet. Sie enthielten Aderlass-Termine und Wetterregeln, Hinweise zu Landwirtschaft und Haushaltsführung, Termine wichtiger Märkte und die Vorhersage meteorologischer Erscheinungen.

Im 17. Jahrhundert kamen „Schreibkalender“ hinzu, d.h. Kalender, die Platz für persönliche Eintragungen ließen. 

Seit 1676 erschien in Basel der „Hinckende Botte”, ein offensichtlich ironischer Titel, der darauf hinweist, dass die Kalender als Fortführung der Tradition der alten Kolportage-Boten erschienen. Kalender vom Typ des Hinkenden Boten enthielten auch unterhaltsame kleine Erzählungen. Die Kalender dokumentieren die tiefe Verankerung religiöser Motive in der ländlichen Gesellschaft, man wollte Zauberhistorien oder Traumdeutungen hören. Die Kalender zeigten in ihrer Themenmischung genauso eine heimatliche Gebundenheit wie die medial vermittelte Lust an exotischer und kurioser Überschreitung des ländlichen Horizontes.

Nach Rudolf Schendas Schätzung kamen in Mitteleuropa im Durchschnitt um 1770 erst 15 Prozent, um 1830 schon 40 Prozent der Bevölkerung als Leser in Frage, die Reichweite der Kalender war aber nicht nur aufgrund ihres Bildmaterials, sondern auch aufgrund der Praxis des Vorlesens deutlich größer. Sie hatten auch einen festen Platz in den Wirtshäusern.

Die Kalender waren ein frühes, periodisch erscheinendes „Massenmedium“. Wenn die wöchentlich oder täglich erscheinenden Zeitungen im 19. Jahrhundert zu Massenmedien wurden, hat das sicherlich mit der zunehmenden Alphabetisierung und den politischen Mobilisierungsphasen zu tun - als dauerhafte Medien konnten Zeitungen aber nur attraktiv bleiben, wenn sie die Unterhaltungs-Elemente der Volkskalender übernahmen.

Frühe Einblattkalender, Lasszettel und die Vier-Säfte-Lehre

Die frühesten kalenderartigen Drucke aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren Einblattdrucke, die nur Angaben über Neu- und Vollmonde und andere astronomisch-astrologisch wichtige Daten hatten, insbesondere auch Sonnen- und Mondfinsternisse. Der Nutzen dieser Angaben war groß, weil astrologischer Konstellationen wichtig waren für die Terminierung medizinischer Behandlungen. Dazu gehörten Abführmittel und der Aderlass.

Grundlage der verbreiteten Praxis des Aderlasses war die Vier-Säfte-Lehre, nach der das Wohlbefinden des Menschen vom Gleichgewicht der Körpersäfte schwarze Galle, Schleim, Blut und gelbe Galle abhängt.

Den vier Körpersäften entsprechen die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, aus denen nach der Lehre des Aristoteles die ganze unbelebte Welt aufgebaut war: Der menschliche Körper ist aus den gleichen Grundstoffen aufgebaut wie der Rest des Universums, daher kann es „Sympathie“-Beziehungen zwischen dem menschlichen Körper und den Gestirnen des Himmels geben. Der Mond hat dabei besonders großen Einfluss auf die Geschehnisse auf der Erde, für die Berechnung geeigneten Aderlass-Tage spielt der Mond die Hauptrolle.

Während die Menschen die astrologische Berechnung traditionell vom Arzt im Einzelfall berechnen ließen, konnte nun jedermann vom Einblattdruck das geeignete Datum ablesen – die Einblattkalender wurden auch „Lassbrief" genannt. Wohlhabende Bauern und Bürger konnten sich diese frühen Kalender leisten,  vor allem aber hatten Barbiere in der Stadt und auf dem Land sie an der Wand hängen – der Aderlass war neben dem Haarschneiden und Rasieren für sie eine wichtige Einnahmequelle. 

Im 16. Jahrhundert entwickelten sich die „Lasszettel“ zu Wandkalendern, auf denen nun jeder Tag und jeder Monat mit Tagesheiligen eingetragen war.

Astrologische Empfehlungen wie „guot aderlassen“ oder „guot schräpffen“ 
wurden durch Symbole ersetzt und durch weitere praktische Empfehlungen insbesondere für landwirtschaftliche Verrichtungen ergänzt – etwa eine Mistgabel für „ackern, Mist anlegen“.
Dies zeigt, dass die Drucke auch für leseunkundige Menschen attraktiv sein sollten.
Die Kalender enthielten auch astrologische  Wetterprognosen – das Bild eines Hutes stand für „sonniges Wetter“. Im Zentrum der Bedeutung des Kalenders stand allerdings weiterhin seine medizinische Beraterfunktion – das war bis ins 20. Jahrhundert populär mit dem Volkskalender von „Kräuterpfarrer" Künzle.

Schreibkalender 1655
Titelbild eines
Schreibkalenders,
1654

 


Volkskalender als Massenmedien der Unterhaltung

1707 entschuldigte sich ein Luzerner Kalendermacher, dass die Leute neben der Zeittafel „fast lauter Narrenbossen" haben wollten und er gezwungen sei, ebenfalls solche zu drucken, um seinem Kalender hohe Verkaufszahlen zu sichern. 1760 heißt es im St. Gallener „Schreib-Calender,  dass der Kalender  „die Neu-Begierd der Leuthen sättigen kann“ - und soll.
Der Autor des in Zürich unter dem Titel „Jährlicher Haus-Rath" gedruckten Kalenders fasste seine Ideen zur Förderung von Lebensqualität und Wohlstand gegenüber der Landbevölkerung 1771 so zusammen: „So will ich dir izo den wahren Stein der Weisen schenken, und dir zeigen, wie du von unvernünftigen Vorurtheilen frey, wie du gesund, stark und schön bleiben, oder auch werden kannst. Wann du meinen Vorschlägen folgen wirst, dann werden deine Äcker, Wiesen, Weinreben, Bäume und das Vieh mehr abgeben als bisdahin. (…) Kurz! es soll nur von dir abhangen, glücklicher zu werden: Und wann ich dich über das noch Zufriedenheit lehren kann; dann wirst du reicher als ein König seyn."

Tradition und Aufklärung – der Kampf gegen die „Unvernunft“

Mitte des 16. Jahrhunderts kamen Buchkalender auf den Markt, zunächst dünne Hefte, später umfassten sie meist mehr als hundert Seiten. Im 18. Jahrhundert verfügte die große Mehrheit der Haushalte einen Jahreskalender. Die sinkende Respektabilität der Astrologie in gebildeten Kreisen führte zu Konflikten.

Die Kalender enthielten rückblickende Berichte über wichtigste politische Ereignisse auch im Ausland, über spektakuläre Unfälle, Naturkatastrophen, Verbrechen, Missgeburten, unerklärliche Ereignisse und lustige Geschichten. Die reichhaltige Bebilderung mit Holzschnitten machte sie attraktiv. Vielerorts ließ die Obrigkeit die Texte vor dem Druck einer Zensurstelle vorlegen. In Zürich war zwecks besserer Kontrolle nur jeweils ein Verleger berechtigt, Kalender herzustellen, Bern verbot 1731 den Import und Verkauf fremder Kalender in seinem Gebiet.

Kalenderautoren nutzten ihre Stellung natürlich auch im Auftrag der Obrigkeit, um dem Volk im Kalender genehmes politisches und praktisches Wissen zu vermitteln. Die Kalender spiegeln Veränderung in den der Verhaltensweisen der ländlichen Bevölkerungsschichten wider. Die unterrichten über Neuerungen in der Landwirtschaft, über Ungezieferbekämpfungs- und Düngemittel, über Anleitungen zur Pflege des Viehs oder neue Futterpflanzen wie etwa den Klee. Es gab genauso Ratschläge zur Verbesserung des bäuerlichen Alltags wie zu der frage, „Was bey dem Brodbacken zu beobachten“ oder beim „Heyrathen."

Die aufklärerischen Ansichten im medizinischen Bereich widersprachen natürlich oft den astrologisch inspirierten Anweisungen alter Überlieferung. So kämpfte der Berner „Hinkende Bott" 1777 im „Unterricht an das Landvolk, das Aderlassen betreffend" gegen das präventive Aderlassen. Aderlass sei kein Allerweltsheilmittel, sondern nur noch bei bestimmten Krankheitssymptomen anzuwenden, hieß es da. Der „Landmann" solle sein Blut, „die Quelle seiner Kräfte" nicht ohne dringende Gründe vergießen, denn sein Überfluss an Körpersäften werde bei der harten Arbeit in Feld und Wald durch die Ausscheidung von Schweiß ausreichend reduziert.

Neben Belehrungen über den Aderlass wurden beispielsweise Rezepte gegen gefährliche Krankheiten wie den „rothen Schaden“ (die Ruhr) oder zur Behandlung unterkühlter Menschen weitergegeben. Die Empfehlungen berücksichtigten, dass die Leute auf dem Land ihre Heilmittel dort suchten, wo „der L. Gott“ sie „allenthalben ohne Entgelt finden lässt". (Jährlicher Haus-Rath, Zürich 1766)

Wenn oft aufklärerisch gesinnte Autoren der Kalender zu radikal die Aderlasstafeln, Tierkreiszeichen und abergläubischen Wetterregeln ersetzten durch „vernünftige“ Ratschläge zur Lebenshaltung, Viehfütterung, Gesundheitspflege, dann konnten die Bauern heftig reagieren:  Dem württembergischen Verfechter der Kleefütterung, Pfarrer J. F. Mayer zu Kupferzell, wurden die Reformkalender von den erbosten Landleuten gebündelt ins Haus gebracht und vor die Füße geworfen.

Kalenderautoren führten den Kampf gegen den „Aberglauben" nicht nur auf dem Felde der Medizin. Der „Appenzeller Kalender" erklärte in der Ausgabe für 1776 in einem fiktiven Gespräch zwischen einem Bauern und einem Gelehrten die wahre Natur der von den Bauern für teuflisch gehaltenen „Feuermänner" (Irrlichter), die sich nachts über manchen Wiesen beobachten ließen. Der Basler „Hinkende Bote" des Jahres 1794 erklärte: „Die größten Wunder liegen in der Natur. Wer mit den Geheimnissen dieser großen Künstlerinn und Zauberinn vertraut ist, der wird zuverlässig keine Hexen- und Gespenster-Geschichten mehr glauben."

Vor allem neue technische Sensationen wurden als Ersatz für alten Aberglauben angeboten: Im „Jährlichen Haus-Raths" von 1754 findet sich eine Beschreibung der „Elektrisiermaschine" in Zürich. Mit Hilfe dieser Maschinen konnten durch Reibung elektrische Ladungen erzeugt werden, ab den 1740er Jahren auch zu therapeutischen Behandlungen: Man konnte das erkrankte Glied „electrifieren". Der Bericht meldet spektakuläre Heilungserfolge eines schwedischen Arztes: „Dieses Mittel kommt vielen Menschen unglaublich vor, und können es nicht wohl begreiffen, sie nehmen dann solches selbst in Augenschein, da man hier in unserer Stadt den Anlass darzu habe, indem einige Herren auch curios waren, etwelche Versuche dieses Mittels vorzunehmen, und man allbereit gute Würckung davon gefunden. Jederman, der auch curios ist, dieses Electrifieren anzuschauen, gehet mit allem Vergnügen anheim."

Der „Appenzeller Kalenders“ des Jahres 1785 berichtete über den erfolgreichen bemannten Ballonflug durch die Gebrüder Montgolfier in Paris im Jahr 1783.

In dem Maße, wie sie das Bedürfnis der Käufer nach Sensationen befriedigten und dies mit Illustrationen vor Augen führten, wurden Volkskalender zum herausragenden Massenmedium des 18. Jahrhunderts.

Produkte aus China aus BRENNGLAS Lustiger Volkskalender 1859Karikatur aus dem 
Komischen Volkskalender” 
1856

 

19. Jahrhundert: Adolf Glaßbrenner -
Eulenspiegeleien im Volkskalender

Die Biografie und die Arbeit von
Adolf Glaßbrenner (1810-1876) ist ein gutes Beispiel für dafür, wie das populäre Format des Volkskalenders für
politische Unterhaltungszwecke genutzt wurde, die man in der Mitte des 19. Jahrhunderts sonst dem Genre Zeitung oder Flugschrift zuordnen würde.
Glaßbrenner war zeitweise Mitarbeiter des Berliner Eulenspiegel und publizierte unter dem Pseudonym „Adolf Brennglas“.
Er gab seit 1832 den Berliner Don Quixote  – ein Unterhaltungsblatt für gebildete Stände
heraus, das mehrmals die Woche erschien.
1833 wurde Glaßbrenner dafür mit einem fünfjährigen Berufsverbot belegt.
Er schrieb Neuer Reineke Fuchs (1846), eine Gesellschaftssatire des  politischen „Vormärz”, die sofort nach Erscheinen verboten wurde,
und die Serienhefte Berlin wie es ist und – trinkt.
In Neustrelitz zählte er 1848/49 zu den führenden Demokraten,wurde im Herbst 1850 des Landes Mecklenburg verwiesen und ging nach Hamburg. Dort gab er humoristische Zeitschriften heraus, wieder in Berlin 1868 die dann die Berliner Montagszeitung.

Für das Jahr 1849 erschien von ihm unter seinem Pseudonym „Brennglas“  ein „Komischer Volkskalender“, der die traditionellen Elemente des Volkskalenders nur noch als Format nutzt, um seinen politischen Witz unters Volk zu bringen.

„Dieses Jahr ist das 7.816.535ste seit der Erschaffung der Welt, wobei gar kein Irrthum möglich ist“, beginnt der Kalender, und erwähnt die Erfindung der Buchdruckerkunst durch Guttenberg (409 Jahre) neben der Entdeckung Amerikas, der „Erfindung der Censur“, der Hinrichtung Ludwig's XVI und endet mit der „Erhebung des deutschen Volkes“ von 1847.  Jede Woche hat eine Losung, jeder Tag einen ironischen Bezug. Etwa der 22. März:  „Ihre Majestäten, die Königinnen Isabella und Christine von Spanien werden Allerhöchstpersönlich weggejagt.“ Oder der 25. März: „Volksversammlungen in den Kirchen, bei welchen die Pfaffen nicht zu Worte kommen.“ Wie die herkömmlichen Kalender enthält der von Glaßbrenner Geschichten, Gedichte, Satiren und Karikaturen. Da gibt es z.B. eine Seite über „Logische Beweise für die Nothwendigkeit der Staatsdiener, Künstler etc.“. Zu den Fürsten geht der Beweis so: „Gäbe es keine Fürsten, so wäre die ganze Welt Republik; wäre die ganze Welt Republik, so existirten auch keine Fürsten mehr: Fürsten existiren aber noch, ergo muß es auch FÜRSTEN geben.“

Titel aus Illustrirter katholischer Volkskalender 1860Das an der
Tradition
orientierte 
Gegenstück zu
Glaßbrenners Kalender wäre etwa der „Illustrirte Katholische Volkskalender“, der den Gläubigen zu jedem Tag den Heiligen nennt.

hier die Titel -Illustration  der Ausgabe
für 1860
.

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