Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

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Die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert:

Dreyfus – eine Affäre der Mediengeschichte

2019

Am 22. Dezember 1894 sprach das Oberste Kriegsgericht in Paris den Hauptmann der Artillerie, Alfred Dreyfus, der „Komplizenschaft mit einer ausländischen Macht" schuldig. Dreyfus wurde verurteilt, degradiert und verbannt  - der Fall löste eine zwei Jahrzehnte andauernde Auseinandersetzung aus, die in den neuen Massenmedien ausgetragen wurde. Es ging um den neuen politischen Stil der Öffentlichkeit und die Bürgeremanzipation.

Zur historischen Situation

Mit der Armee hatte die 3. Französische Republik ein Stück monarchischer Staatsform geerbt: In der Armee war die Aristokratie überrepräsentiert. Antisemitische Gedanken waren verbreitet, gleichzeitig war für den jungen Elsässer Juden Alfred Dreyfus der Eintritt 1878 ein patriotischer Akt.
Die Spionageabwehr der Armee bekam über eine Putzfrau systematisch die Papierkörbe der Deutschen Botschaft in Paris. Am 25. September 1894 gelangte so das „Bordereau" in die Hand der Spionageabwehr, ein Brief, in dem ein französischer Armeeangehöriger Daten über Artilleriegeschütze zur Durchsicht anbot. Der Generalstab schnell einig, dass nur Dreyfus der Verräter sein konnte, er wurde verhaftet.

Das erste Urteil 1895

Die Presse berichtete – die Rede war von einer unmittelbaren Kriegsgefahr durch den Verrat bestünde, der Inhalt des Dokuments wurde geheim gehalten. Dreyfus wurde wegen Landesverrats verurteilt und 1895 öffentlich degradiert. Eine aufgebrachte Menge schleuderte ihm antisemitische Beleidigungen entgegen. Dreyfus defilierte vor der Truppe und schrie seine Unschuld heraus. Dreyfus wurde auf die Teufelsinsel vor Guayana/Südamerika gebracht und in Ketten gelegt.

Die Rehabilitierung

Im März 1896 wurde durch die Spionageabwehr ein anderes handschriftliches Papier abgefangen. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, der Verdacht fiel nun auf den Offizier Major Walsin-Esterhazy, der seinen aufwendigen Lebensstil mit Verrat finanzierte. Der für Dreyfus entlastende Beweis wurde jedoch vom französischen Generalstab zurückgehalten, der Chef der Spionageabwehr, Major Georges Picquart, seines Amtes enthoben und nach Tunesien versetzt, um einen Militärskandal zu verhindern. Die Reihen des Militärs schienen unerschütterlich - Esterhazy wurde 1898 von einem Militärgericht von aller Schuld freigesprochen.

Die Gesellschaft war gleichwohl stark polarisiert. Das flammendste Bekenntnis eines Dreyfus-Anhängers war am 13. Januar 1898 der Zeitungsartikel „J’accuse” von Emile Zola. Der neue französische Kriegsminister wollte durch die Veröffentlichung der „Geheimakte" alle Zweifel an Dreyfus‘ Schuld beseitigen.
Das Lügenkartell zerbrach jedoch, ein Fälscher aus der Spionageabwehr begann Selbstmord,  Esterhazy bekannte sich zur Spionage und floh außer Landes, der Kriegsminister trat zurück.

Das zweite Urteil 1899

Der Sommer 1899 brachte die Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 9. September wurde Dreyfus mit mildernden Umständen schuldig gesprochen, dieses Urteil zog ungeahnte Proteste in der französischen Öffentlichkeit und der ganzen Welt nach sich, woraufhin Präsident Loubet sich gezwungen sah, Dreyfus am 19. September 1899 zu begnadigen. Dreyfus war frei, aber erst 1906 wurde er rehabilitiert und als Ritter der Ehrenlegion wieder in die Armee aufgenommen.
Es dauerte jedoch noch weitere sieben Jahre, bis Alfred Dreyfus schließlich im Juli 1906 freigesprochen und vollständig rehabilitiert wurde

Die mediengeschichtliche Bedeutung der Affäre

Die Dreyfus-Affäre fällt in eine Zeit, in der Massenmedien zu geringen Kosten verfügbar wurden – als Monatszeitungen, wöchentlichen Illustrierten und als Tageszeitungen. Im Unterschied zum vorrevolutionären Frankreich Voltaires konnte die Mehrheit der Franzosen am Ende des 19. Jahrhunderts lesen und die 3. Republik bekannte sich zur Pressefreiheit in ihrer Verfassung. Artikel 11 der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von 1789) hatte festgelegt: „tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement, sauf à répondre des abus de cette liberté dans les cas déterminés par la loi.“ Immerhin bis 1799.
Nach 100 Jahren des Streits um die Pressefreiheit stand dann 1881 in einem neuen Gesetz: „Tout journal ou écrit périodique peut être publié, sans autorisation préalable et sans dépôt de cautionnement.“

Die Druckerpressen bedienten Ende des 10. Jahrhunderts das Interesse einer zunehmend zahlungskräftigen und interessierten Bevölkerung.  Die Dreyfus-Affäre verband sich zudem mit einer Grundsatz-Debatte in der französischen Gesellschaft. Demokratische rechtsstaatliche Prinzipien standen gegen das Ansehen und das vordemokratische Machtmonopol der Armee.
Der Tonfall der antisemitischen „Libre Parole“ war klar, Dreyfus war uneingeschränkt schuldig, schon allein seines Judentums wegen. In dieselbe Kerbe schlugen auch Zeitungen wie das ultra-konservative und  katholische Blatt „La Croix“ oder das nationalistische Organ  „L’Intransigeant“. Zu Beginn waren auch sozialistische und linke Zeitschriften von der Schuld des Verurteilten überzeugt.
Erst als der Anwalt Dreyfus‘, der Schriftsteller und Journalist Bernard Lazare in Brüssel, aus Angst vor französischer Zensur, die Broschüre „Une erreure judiciaire. La Vérité sur l’affaire Dreyfus“ drucken ließ, regten sich erste Stimmen, die ebenfalls für Dreyfus Partei ergriffen. So veröffentlichte beispielweise „Le Figaro“ einen ersten Brief von Émile Zola, in dem er den Senator Scheurer-Kestner unterstützte, der Zweifel an der Schuld Dreyfus äußerte. Allmählich begann sich eine Front zu bilden, die den erbitterten Dreyfus-Feinden gegenüber stand.
Den Höhepunkt der Auseinandersetzung in der Presse bildete Emil Zolas offener Brief „J’accuse“, erschien 1898 in der von Georges Clemenceau herausgegebenen Zeitschrift „L’Aurore“. Der Frontalangriff richtete sich gegen die Regierung, die militärische Führung und die Justiz.
Die Zeitung „Le Siécle“ veröffentlichte die Dreyfus‘ „Briefe eines Unschuldigen“ und schließlich ergriff auch der bekannte Sozialistenführer Jean Jaurés in der Zeitung „La Petite Republique“ für Dreyfus Partei.

So spaltete sich die französische Gesellschaft in zwei Gruppen: Die „Anti-Dreyfusards“ sprachen  die militärischen, konservativen und katholischen Kreisen an mit ihren nationalistischen und antisemitischen Parolen.

Auf der Seite der Verteidiger von Dreyfus‘ Unschuld bildete sich eine neue Allianz aus Journalisten, Sozialisten und Künstlern, eben die modernen „Intellektuellen“. Ihre Medien waren Zeitung wie „L’Aurore“, „La petite Republique“, „Droits de l’Homme“ und „Le Radical“. Sie übten öffentlich Kritik am Staat, am Militär und der Justiz und forderten Demokratisierung. 

Die Öffentlichkeit der Dreyfus-Affäre war international. Nach der zweiten Verurteilung gab es Demonstrationen in Brüssel, New York, Mailand, Budapest und vielen anderen Welt-Städten. Die deutschen und die amerikanischen Zeitungen verurteilen den Prozess, in der englischen Presse war von „Frankreichs moralischem Sedan“ die Rede. Es gab die Forderung, die Weltausstellung, die 1900 in Paris stattfinden sollte, zu boykottieren. Auch angesichts dieser Drohung kam es zur Begnadigung Dreyfus‘.

Der Ton der Presse war im damaligen Frankreich sehr rau, die Kritiken scharf und polarisierend. Die neuen Medien nutzten ihre neue Macht zur Agitation und Mobilisierung.

Die Folgen

Ein Artikel in einer Tageszeitung führte zu Angriffen gegen Juden in Paris und zu Aufständen von Juden in Algerien.
Sowohl Dreyfus als auch sein Rechtsanwalt wurden angeschossen. Eine politische Gruppe nutze die aufgeheizte Stimmung gar zum Putschversuch, um die Republik zu beseitigen.
Dreyfus wurde angegriffen als Personifizierung der Juden in Frankreich, die angeblich die Macht an sich reißen wollten. Seine Ehefrau, die sich um die Freilassung ihres Mannes bemühte, wurde zur Personifizierung sorgenden Frau.
Der Spionageoffizier, der Dokumente gefälscht hatte, um Dreyfus zu belasten und der sich schließlich selbst umbrachte, wurde von der Presse zum idealistischen Vertreter des Offizierskorps stilisiert.
Die Kirche, die sich durch Judenfeindlichkeit und Feindschaft gegenüber der Republik stark diskreditiert war, wurde vom Staat auf Betreiben der neuen linken Regierung getrennt. 
Unter den Juden breitete sich der Zionismus aus, Theodor Herzl bekannte: „Zum Zionisten hat mich der Prozess Dreyfus gemacht.“ 1897 berief er den ersten Zionistenkongress nach Basel ein.
Die Sozialisten wurden durch die die Öffentlichkeit beherrschende Debatte dazu gezwungen sich mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. Dies führte zu einer Spaltung der Sozialisten.

Eine neue gesellschaftliche Strömung entstand, die „Intellektuellen. Eine neue und aktivere Art der bürgerlichen Mitbestimmung entstand und führte insgesamt zu einer Demokratisierung der Gesellschaft.

Der Journalist Georges Benjamin Clemenceau, Herausgeber der „Aurore“ wurde 1906 zum Premierminister, Spionageabwehr-Chef Picquart, der als erster im Staatsapparat den Mut gehabt hatte, die Schuld Dreyfus‘ infrage zu stellen, wurde zum Kriegsminister ernannt, Dreyfus selbst zum Ritter der Ehrenlegion.

Ein Gesetz (1905) brachte  der Trennung von Staat und Kirche voran.

Der Antisemitismus war in Frankreich erheblich geschwächt.