Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen
ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges
ISBN 978-3-7375-8922-2
 

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt
ISBN: 978-3-752948-72-1
 

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
ISBN 978-3-746756-36-3
 

 

Bewegende Bilder 

Die Faszination des Films an der Wende zum 20. Jahrhundert

                                                         5-2016

Neue Medien haben immer die bestehende Kultur verunsichert. Als der französische Maler Louis Daguerre (1789-1851) im Jahre 1837 Abbilder der Realität auf einer spiegelglatt polierten Silberoberfläche darstellen konnte (Daguerrotypie), gab es Zeitgenossen, die sich darüber wunderten, dass die abgebildeten Personen sich nicht auch bewegen konnten und die glaubten, dass die Fotografierten ihrerseits den Betrachter ebenfalls ansehen könnten.

Der „Leipziger Stadtanzeiger" schrieb 1841: „Flüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen, dies ist nicht bloß ein Ding der Unmöglichkeit …  Schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eine Gotteslästerung. Derselbe Gott, der seit Jahrtausenden es nie geduldet hat, dass eines Menschen Spiegelbild unvergänglich bestehen bleibt, dieser selbe Gott soll plötzlich seinen urewigen Grundsätzen ungetreu werden und es zulassen, dass ein Franzose in Paris eine Erfindung teuflischster Art in die Welt setzt! Man muss sich doch klarmachen, wie unchristlich und heillos eitel die Menschheit erst werden wird, wenn sich jeder für seine Goldpatzen sein Spiegelbild dutzendweise anfertigen lassen kann.“

Fünfzig Jahre später konnten die Bilder laufen: Am 22. März 1895 projizierte in Paris der „Cinematographe“ der Fabrikantensöhne Louis und Auguste Lumiere und ihres Ingenieurs Jules Carpentier zum ersten Mal bewegte Bilder auf eine Leinwand. Ähnlich wie bei der Technik der Fotografie erregte die neue Technologie schnell großes Aufsehen. 
Fast zeitgleich hatten die  Gebrüder Skladanowsky in Berlin ihren Projektionsapparat „Bioskop“ vorgeführt. Schon im Dezember 1895 gab es öffentliche Vorführungen gegen Eintrittsgeld. Die ersten deutschen Filme hatten Namen wie „Komisches Reckturnen“ und „Das boxende Känguru“, sie waren Einlagen im Varieté. Die frühen Stummfilme waren „derb und frech, aber voller Freude bei der Wiedergabe von Szenen aus dem Alltag, bei der dokumentarischen Aufzeichnung oder der Rekonstruktion historischer Ereignisse. Da es ein Instrument der Unterhaltung war, wurde schon in den ersten Filmen der Clownerie, der grotesken, der heiteren Szene viel Raum gewidmet.“ (Horst Knietzsch)

1896/97 wurden in ganz Europa und auch in einigen Städten an der amerikanischen Ostküste Lumière-Filme gezeigt.
1899 konnte man auch in Shanghai, Peking, Tokyo und Yokohama Filme sehen - Stummfilme, die kurze Szenen aus dem Alltag, Variétéstücke und Ähnliches zeigten. Die Kurzfilme hatten oft dokumentarischen Charakter, waren jedoch in erster Linie unterhaltend gedacht.

Zur Vorgeschichte des Film-Erlebnisses gehört das „Panorama“ (L), das auf den Jahrmärkten hundert Jahre früher „die“ Sensation gewesen war. 
Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts experimentierte man mit schnellen Bildfolgen der Fotografie, die dem trägen Auge eine Bewegung simulierten.

Die Filmvorführung von „La Sortie de l'Usine Lumière à Lyon“ 1895 war eine Medien-Sensation, obgleich das Thema eher banal scheint: Man sieht 46 Sekunden lang ArbeiterInnen aus dem Fabriktor kommen, per Stand-Kamera aufgenommen. Hin und wieder kommt etwas Unruhe in das Bild vom Fabriktor, ein Mann mit Fahrrad, eine Pferdekutsche. (Links zu Wikiyoutube)
Frau im Mond

 


„Frau im Mond”

- Stummfilm in seiner Vollendung, Liebesgeschichte und technologische Zukunftsvision

Zur großen Premiere von 
Fritz Langs letztem Stummfilm
im Oktober 1929
kam die Berliner Prominenz,
Regierung und Industrie - 
und Albert Einstein.

 

Das Sensationsmedium suchte schnell Themen, die die Phantasie mehr bewegten: Schon 1896 wurde die Krönung des Zaren Nikolaus II. wurde zu einem Film-Thema. Der junge Film dokumentierte königlicher Auftritte und militärischer Manöver, aber auch des Alltagslebens ferner Länder: Spanische Stierkämpfe, die Niagarafälle, japanische Tänzerinnen und Straßenszenen faszinierten die Film-Besucher. Der Film wurde zum Medium der Reportage und der kulturellen Globalisierung. In einem Teehaus von Shanghai wurde der Besuch des russischen Zaren in Paris und eine ägyptischen Bauchtänzerin auf der Weltausstellung in Chicago gezeigt.

Der Ort der meisten Vorführungen war aber zu Beginn der Filmgeschichte das Variete. So fügen sich viele der Filmstreifen in das Varieteprogramm: Slapsticks, anzügliche erotische Vorführungen, leichte Unterhaltung.
Melies produziert 1898 die „Versuchung des Heiligen Anthonius”, dem immer wieder leicht bekleidete Frauen erscheinen, derer er sich mit Mühe erwehren muss
 (Link).  
1902 drehte Méliès den ersten Science-Fiction-Film: 
Die Reise zum Mond”. Méliès behandelte den Film als ein Theater mit anderen Mittel. Die Reise zum Mond findet entsprechend auf der Bühne statt, er führt den Mond als Chaos vor, als ungeordneten Kosmos. Zur Rückreise lassen die Mondfahrer ihre Raumkapsel einfach herunterfallen. (1)

Der Film ist ein Medium der Großstadt – die Eisenbahn spielt eine große Rolle und die Anonymität der Großstadt-Menschen. In dem Film „Fifth Avenue” (New York, 1897) wird eigentlich nur das beängstigende Großstadt-Menschengewimmel gezeigt. (Link) 
Der Film war ein Medium der Großstadt – die Eisenbahn spielt eine große Rolle und die Anonymität der Großstadt-Menschen. In dem Film „Fifth Avenue” (New York, 1897) wird eigentlich nur das beängstigende Großstadt-Menschengewimmel gezeigt. Die Filme griffen unter dem Vorwand der Dokumentation die Verbrechens-Phantasien der Zeit auf: In der anonymen Großstadt des Films tummeln sich Berufsverbrecher und leichte Mädchen.

Das französische „Magasin pittoresque" berichtete in Paris am 1.1.1896 ebenso fasziniert wie weitsichtig über das Potential des neuen Mediums, eine „absolute Illusion vom Leben“ vor Augen zu führen: 

    „Nehmen Sie von einer Szene aus dem Leben, so kompliziert sie auch sein mag, eine große Zahl von Fotografien in unendlich kurzen Abständen auf; ziehen Sie von diesen Negativaufnahmen die gleiche Anzahl von Positiven; führen Sie diese auf einer Leinwand vor, indem Sie sie mit dem gleichen Zeitabstand wie bei der Aufnahme aufeinanderfolgen lassen, so erhalten Sie die streng getreue Reproduktion der intimsten Details der Ausgangsszene: die Bewegungen, die Gesten der Personen, das Zittern der Blätter, das Sprudeln des Wassers, die rhythmischen Wellenbewegungen des Meeres; das ist es, was der Cinématographe verwirklicht, dieser wunderbare Apparat, den zwei Franzosen gebaut haben, die Herren Lumière...  Schließlich wird man es schaffen, die Farben zu photographieren und dem Cinématographe in Farbe einen Phonographen hinzuzufügen; so zusammengestellt wird die Bewegung und die Sprache - das heißt das Leben - mit rigoroser Genauigkeit gleichzeitig aufgenommen und wiedergegeben werden. An diesem Tag - und der wird schon morgen sein - wird uns die Wissenschaft die absolute Illusion vom Leben geben."

Die Sensation des Jahres 1899 war der Boxeraufstand in Nordchina. Um das Thema auf die Leinwand zu bringen, wurden spektakuläre Schreckensszenen auf englischen Wiesen und in französischen Parks nachgestellt und als authentisch ausgegeben. Besonders gut kam beim Publikum ein „Angriff chinesischer Aufständischer gegen eine christliche Missionsstation“ an. 

Überlieferte Dokumentaraufnahmen entstanden erst 1901 aus dem befreiten und besiegten Peking.
Georges Méliès, der 1897 am Rande von Paris erstmals ein Filmstudio eröffnete, in dem man Kulissen aufbauen konnte, wurde zum Protagonisten des künstlerischen Films. Er drehte 1899 einen Film über die Dreyfus-Affäre – eine bewegte und bewegende Umsetzung von fotografischem Reportagematerial aus Zeitschriften und Zeitungen. 
Auch Katastrophen waren auch für den frühen Film ein attraktiver Stoff. Bereits 29 Tage nach dem Unglück des Luxusdampfers Titanic im Jahr 1912 fand ein zehnminütiger Stummfilm seinen Weg auf die Leinwand.

Der Erfolg der Wanderkinos führte bald zur Gründung ortsfester Lichtspielhäuser. Am 1. Januar 1900 gab es in Deutschland zwei, zehn Jahre später waren es 480. In den ersten Jahren wurden Filme in „Wanderkinos“ gezeigt, die Filme-Vorführer präsentierten ihre Streifen in Gasthäusern, Variétés, Theatern. Feste „Ladenkinos“ - anfangs meist in Ladenlokalen untergebracht -  entstanden erst im beginnenden 20. Jahrhundert. In den Kinos wurden die Kurzfilme als Endlosschleife gezeigt.

Erste Kinoketten entstanden - die Pathé Frères betrieben in Frankreich im Jahre 1909 schon 200 Kinosäle, die nach dem Vorbild von Theatersälen gebaut wurden. Im Jahr 1913 besuchten in Deutschland täglich mehr als eine Million Menschen das Kino. In knapp 20 Jahren hatte sich der Kino-Film zum wichtigen Unterhaltungsmedium entwickelt - eine Unterhaltungsindustrie eignete sich das neue Medium an.

Kultur der Frauen und der Männerphantasien

Insbesondere Heide Schlüpmann hat darauf hingewiesen, dass die frühe Filmkultur auch eine der Frauen war. Frauen konnten anfangs als „Regisseurinnen“ arbeiten, Schauspielerinnen konnten „ihren“ Film prägen. In der noch nicht etablierten Filmkultur gab es keine festgelegte, männliche Hierarchie. Das frühe Kino wollte zudem Frauen als Publikum gewinnen. Es gab Filme, in denen Frauen-Schicksale im Mittelpunkt standen - ein Dienstmädchen, eine Hausfrau, eine Waise. „Die Geschichten führen in die meist noch ‚ungestellte' Wirklichkeit des Inneren einer Fabrik, einer Bank oder eines handwerklichen Betriebs, in die im Atelier nachgebauten Wohnungen der Gründerzeit - den Salon, den Wintergarten einer großbürgerlichen Villa, in eine kleinbürgerliche Wohnküche. Sie handeln mal von den Existenzsorgen einer alleinstehenden Frau, mal von den Problemen eines bürgerlichen Aufsteigers, doch fast immer vom Intimleben zwischen Ehe und Prostitution.“

Schon früh thematisierten die Filme das „moderne Großstadtleben“. 1911 erschien „Hyänen der Großstadt“. Es wurden Orte und Menschen vorgestellt, die für den normalen Kino-Besucher großen Reiz hatten – weil die Filme Tabus ankratzten. Gerade schlüpfrige Themen wurden mit dem Anspruch auf Öffentlichkeit gerechtfertigt: „Das Prinzip der Moderne ist ja die Öffentlichkeit“, schreibt Hans Oswald, Filmemacher und Autor einer zehnbändigen Studie „Das Berliner Dirnenwesen“ (1906). Der Stummfilm zeigte „Körperkunst als Spiegelbild intimer Innerlichkeiten“. Die Filme stellten die verbreiteten Phantasien über die Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft vor Augen.

Arbeiter und Arbeiterinnen kamen in die Kinos, „die doch nach frischer Luft lechzen müssten“, Hausfrauen, die „keinen neuen Film versäumen“ wollen, so schreibt ein Kritiker 1913. Einer „Bazillenbude“ gleich wirke der Kinobesuch: „Erhitzt ist man und von Lust geplagt. Und so kommt man nach Hause.“ (Victor Noack)

Auch in seiner späteren Phase als „Ein-Stunden-Film“ erfreute sich das Kino besonders bei Frauen großer Beliebtheit - die Sorge um den Sittenverfall ließ in der Weimarer Zeit nicht nach. Der Schriftsteller Konrad Haemmerling (unter dem Pseudonym Curt Moreck) geht 1926 von dreieinhalb Millionen Kinobesuchern in Deutschland täglich aus. Er verwendet die Bezeichnung „homo cinematicus" oder auch „Kinomensch": „Wenn ein Menschenkind wöchentlich ein-, zwei-, dreimal ins Kino geht, so wird es schon allein durch die Art der Vorführung, abgesehen vom Inhalt, seelisch zerstört. Mag das Kino noch so anständig sein und ein wohl zensiertes Programm zeigen, die bloße Gewöhnung an die huschenden, zuckenden, zappelnden Bilder der Flimmerwand zersetzt langsam und sicher die geistige und schließlich sittliche Festigkeit des Menschen“. Das Kino wurde für Kriminalität, sexuelle Ausschweifungen und Charakterschwäche verantwortlich gemacht.

Die Freiheit der Filmkultur führte schon früh zur Diagnose von krankhafter „Kinosucht“:  Kritisiert werden Unnatur, Unkultur, Unmoral der Filme und vor allem „die Darstellung von Sexualität und Verbrechen, die Stimulation der Sinne und die Aufreizung der 'Nerven', sie wenden sich gegen die Präsenz der Frauen auf der Leinwand und im Kino, und sie fordern selbstverständlich den Schutz der Kinder.“ (Schlüpmann) Der frühe Film war ein Medium, dessen Kultur der Kontrolle der ‚Gebildeten’ noch nicht unterworfen war. Das demonstriert vollkommen unfreiwillig noch 1929 der Schriftsteller Thomas Mann, von dem es eine Tonfilmaufnahme gibt: Eitel und selbstverliebt posiert Mann da vor der Kamera, weiß das zukünftige Publikum der ganzen Welt vor sich und hat doch nichts zu sagen. Er sitzt eigentlich nur vor der Kamera und redet. Und redet verblasene bildungsbürgerliche Sätze. Dass der Film von den Bildern lebt, weiß er offensichtlich noch nicht. (Link) 

Ein Kassenschlager ist dagegen der Stummfilm „Den hvide Slavinde“ (Die weiße Sklavin, 1906/7) geworden. Anders als das dänische Gemälde von Jean Lecomte du Noüy (1888) zeigt er kein Fleisch, bedient aber ganz ordentlich die Phantiesien über naive Mädchen vom Lande und die Orgien der Städter. Der Film „Hyänen der Großstadt“ (1911) hatte seine Textvorlage durch den Berliner Rechtsanwalt Werthauer bekommen, da geht es um Geschichten aus dem dunklen Verbrechermilieu der Großstadt. Verstöße gegen die bürgerliche Moral, Ehebruch und wilde Liebe, Prostitution und Homosexualität beschäftigten die Menschen, es die Zeit von Sigmund Freud. Der formulierte in seiner Psychoanalyse das grundlegende Unbehagen des Massen-Individuums gegenüber der bildungsbürgerlichen Kultur. Die Psycho-Analyse beschrieb die inneren Triebkräfte, die das Individuum in einen Gegensatz zu den Ansprüchen der äußeren sozialen Welt bringt. Während Freud selbst die „Sublimierung“ der Triebkräfte noch als Grundlage für die Kultur des Bildungsbürgertums rechtfertigte, ließ sich mit seiner Analyse auch der Primat des Individuums gegenüber dem Kollektiv rechtfertigen.

Die Autorin Heide Schlüpmann widerspricht dem Eindruck, dass das weibliche Publikum sich da nur mit den Männerphantasien auseinandersetzen konnte und wollte. „Die 'Gefahr', die der Kinematograph um diese Zeit darstellte, war jedoch nicht nur die des Einblicks eines weiblichen Publikums in das erotische Vergnügen der Männer, sondern mehr noch die einer Selbstwahrnehmung der Frauen“, schreibt sie. Bezeichnend für die literarische Kultur sei die Feststellung von Jean Paul gewesen: „Nur der Mann, aber nicht die Frau schauet sich an.“ Für die Frauen der Jahrhundertwende war das Kino „in der Regel das einzige Vergnügen, das sie außer Haus alleine genießen konnten“, aber es war „mehr als bloße Unterhaltung: Sie brachten in das Kino den vom Theater nicht eingelösten Anspruch, 'sich selber zu sehen': ihre Wünsche und Möglichkeiten, aber auch ihren Alltag, ihr Milieu.“
Gegen diese ambivalente Frauenkultur in dem frühen Kino richtete sich seit 1909 eine bildungsbürgerliche Kinoreform-Debatte. Victor Noack etwa beschrieb in seiner Streitschrift „Der Kino” 1913 die Gefahren der „Volksvergiftung”, des Realitätsverlustes und der „Sittenkorruption”: 
„Rasch füllen sich die Bänke mit Arbeitern und Arbeiterinnen, jungen Kaufleuten und Verkäuferinnen, Büro-Angestellten und ihren weiblichen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, kurzum mit Leuten, deren Lungen doch nach frischer Luft lechzen müssen, deren Augen und Nerven der Ruhe, Ruhe und Ruhe bedürfen. Hausfrauen kommen als ‚Nachbarn’, vom Personal wie alte Bekannte begrüßt. Man hört es ihrer Unterhaltung an, daß sie keinen neuen Film versäumen. (...) Der Projektionsapparat schnurrt schon wieder, die flimmernden Strahlen ruhen gespenstisch über der schwer atmenden Masse. Die kleine elektrische Taschenlampe des ‚Erklärers’ leuchtet den tappend Hereinstolpernden auf den Weg. Der ‚Spritzenmann’ tritt in Funktion. Aus einer großen Spritze stäubt er ‚Ozon’ (so nennt man - seiner spottend, man weiß nicht wie - das Kientopp-Parfüm) über die Köpfe der Lufthungrigen.”
Der Versuch, die gute Literatur zu verfilmen und das neue Medium der alten Pädagogik unterzuordnen, blieben aber ohne Erfolg.

Der Zugriff der Propaganda auf den Film

Die Popularität des Film-Geschäftes blieb den Militärs nicht verborgen. Überall griffen sie zu diesem Instrument. In Deutschland werden 1917 die privaten Filmfirmen auf Initiative des  Generals Erich Ludendorff zur UfA (Universum Film AG) zusammengeschlossen.
1927 sollte die UFA durch Rüstungs-Baron Alfred Hugenberg erworben werden, der die Funktionalisierung des Films durch die Nationalsozialisten damit vorbereitete.

Auch die siegreichen russischen Revolutionäre bedienten sich - der russische Revolutionär Leo Trotzki erklärte 1923 in der Parteizeitung Prawda den Film zum „besten Instrument der Propaganda - der technischen, kulturellen, auf die Produktion bezüglichen, antialkoholischen, sanitären, politischen, überhaupt jeder beliebigen allgemeinverständlichen, anziehenden, sich dem Gedächtnis einprägenden Propaganda". Das Kino konkurriere „nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche“, stellt Trotzki fest: „Das Element der Zerstreuung, der Ablenkung und Unterhaltung spielt im Kirchenzeremoniell eine ungeheure Rolle. Die Kirche wirkt durch theatralische Methoden auf das Auge, auf das Gehör und den Geruchssinn (Weihrauch!) und durch diese auf die Einbildungskraft. Das Bedürfnis des Menschen nach Theatralik – etwas Ungewohntes, Grelles, aus der Eintönigkeit des Lebens Herausführendes zu hören und zu sehen – ist sehr groß, unausrottbar, unersättlich, von den Kinderjahren bis ins tiefste Alter hinein.“

Längere Spielfilme mit erzählendem Charakter waren um 1910 technisch möglich geworden. Erst mit Ende der 1920er Jahre setzte sich der Tonfilm durch. Der erste Tonfilm in deutscher Sprache war „Atlantik” - eine Geschichte in Anlehnung an das Titanic-Seeunglück von 1912.
„Der blaue Engel“ von 1930 spielt noch einmal mit der ganzen Palette des schlüpfrigen Variété-Milieus, das scheinbar „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ (Marlene Dietrich) ist „und sonst gar nichts“; die gute bürgerliche Kultur in Gestalt des Gymnasial-Professors Rath unterliegt den Reizen der billigen Unterhaltung: Die Männerphantasien erleiden die größte anzunehmende Katastrophe.
In Alfred Hitchcocks „Ich kämpfe für dich“ (1945) kommen die Frauen-Klischees nur noch als peinliche Karikatur der Männerphantasien vor – die reizende Protagonistin Constanze ist klüger als alle Männer um sie herum.

Medienrevolution Film

Mit der menschlichen Sehnsucht nach einer (wenigstens) virtuellen Ordnung der Welt haben auch die Erzählungen der Religion und des Marktplatzes gespielt, Sprech-Theater, Oper und  Roman. Der Film geht einen Schritt weiter auf dem Weg von der Lust an der leiblich erlebbaren Phantasie zur Lust an rein optischen Illusionen, von der leiblichen Lust zur reinen Augenweide.

Die vormoderne Welt ist räumlich geordnet, es gibt ein oben und ein unten, ein Zentrum und das, was am Rande ist. Es gibt einige, die das Wissen haben und viele, die nichts wissen. Jeder Ort hatte seine Bedeutung, seine Qualität und seinen Rang. Das Irdische war mit den kosmischen Phantasien verknüpft durch ein Netz von Analogien. 
In der Großstadt gibt es keinen Ort mehr, alles ist überall und nirgendwo „zu Hause“. Eine Person als Teil seiner sozialen Umgebung und Familie geht in die nächste Straße und verschwindet im Gewimmel der Masse, ist auf sich gestellt, wird zum Einzel-Gänger, der seine Rolle suchen muss, zum Künstler des eigenen Alltags, muss sein Selbstbild erfinden und als Image inszenieren. Der Einzel-Gänger ist in seinen Beziehungen nicht ein ganzheitlicher Mensch, sondern ein Träger partieller nützlicher Eigenschaften für mehr oder weniger flüchtige Begegnungsstunden.

Die neuen Medien im 19. Jahrhundert, Massenpresse, Foto und Film, haben fasziniert, weil sie zu der neuen Zeit zu gehören schienen: Sie symbolisierten das Neue und versprachen, die neuen Wirklichkeits-Erfahrungen ordnen zu helfen. Und die neuen Bildphantasien haben gleichzeitig neue Wirklichkeits-Bilder geprägt.

Der Herrscher war in den vormodernen Phantasien ein transzendentes Phänomen – unsichtbar und Gegenstand verschiedenster Erzählungen. Wenn er, vielleicht einmal im Leben, sich zu sehen gab, dann auf Abstand und in der gebührenden körperlichen Distanz, meist rituell inszeniert. Die Massenpresse verbreitet Nachrichten über das, was der Herrscher tut und was andere Herrscher tun, sie relativiert sein Bild in der Phantasie. Die Fotografie und der Film holen den Herrscher herunter auf die Erde, ganz nah heran, machen ihn fast zum Nachbarn. Die neuen visuellen Medien machen den Boxeraufstand und die Krönung des Zaren authentisch sichtbar, sie machen die Welt durchsichtig.

Die Kulturkritik des späten 19. Jahrhunderts ist durchtränkt von der Klage über die zunehmende Hektik, Geschwindigkeit, über die durcheinander geratende Ordnung des Alltagslebens und das „Gewimmel" in den Städten. Der frühe Film mit seinen Zappelbildern auf der Leinwand entspricht diesem Lebensgefühl. Und langsam entwickelt der Film die Rollenmuster, mit denen sich die Menschen sehen und begreifen.

Wenn wir heute vor den Anforderung stehen, einen Menschen zu charakterisieren, dann helfen Beobachtungen wie „wie seine Großonkel“  nicht mehr – denn kein Gesprächspartner kennt im Zweifelsfall den Großonkel. „Wie der X in dem Film Y“ sagt im Zweifelsfall aber allen alles. Parasoziale Rollen-Vorbilder gab es auch im Roman und in der Oper, aber nur wenige für wenige. Mit dem Film erobern die parasozialen Rollen-Bilder die Phantasie des Massengeschmacks, und da die Film-Persönlichkeiten vielfältiger und aufregender sind als die Vorbilder der eigenen Kleinfamiliengeschichte, sortieren wir unsere Menschen-Wahrnehmung an ihnen. Die „Lola“ aus dem „blauen Engel“ und die „Constanze“ aus „Ich kämpfe um dich“ waren als Frauenfiguren präsent in den Köpfen aller europäischen Zeitgenossen und haben als Bildphantasien neue kollektive Wirklichkeits-Bilder geprägt.

Walter Lippmann hat in seiner Arbeit über die „Öffentliche Meinung“ 1922  darauf hingewiesen, dass jeder Mensch sich in einem klein Kreises von Personen in einem geografisch begrenzten Raum bewegt, „Mesokosmos“ hat das Gerhard Vollmer genannt. Nur dieser Mesokosmos ist dem Menschen aus eigener Erfahrung, in diesem Mesokosmos bewähren sich die Überzeugungen und Muster, mit denen die große weite Welt mit ihren fremder Menschen, größere Zeitspannen und komplexen Zusammenhängen begriffen werden müssen.

Wahrgenommene Bilder aus dem Mesokosmos, also der unmittelbar sichtbaren Umgebung, haben wie medial reproduzierte Bilder eine hohe Qualität, die vorhandenen „Bilder in unserem Kopf“ zu aktivieren. Statuen, Architektur, Gemälde, prunkvoller Kleidung, fotografische Abbildungen und insbesondere bewegte Bilder sind mühelos zu konsumieren. Die Mechanismen der visuellen Eindrucksbildung sind prä-rational.

Die amerikanischen Soziologen Donald Horton und Richard Wohl haben schon 1956 in ihren Studien über „Massenkommunikation und parasoziale Interaktion“ festgestellt, dass fremde Persönlichkeiten auf dem Bildschirm dem einfachen Bürger so nahe vor Augen treten, „als gehörten sie zu dessen Bekanntenkreis“. Nuancen des Aussehens und der Gestik können daher die Wahrnehmung der gesprochenen  Botschaft mehr prägen als die Worte selbst. Wirkung der oft nur wenige Sekunden dauernden Einblendungen visueller Zitate in den TV-Nachrichten prägen das Image der entsprechenden Person. Wenn ein visuelles Zitat das andere jagt, hat der Zuschauer kaum eine Chance, mehr als den suggestiven visuellen Eindruck zu verarbeiten. „Das Auge siegt über das Ohr, Bild schlägt Ton“, hat der Medienwissenschaftler Thomas Meyer den Effekt zusammengefasst. Wobei die in Bruchteilen von Sekunden gebildeten emotionalen Wertungen selten durch die Betrachtung einer längeren Film-Sequenz korrigiert werden können und das Bewegungsverhalten einer Person den visuellen Eindruck stärker prägen kann als das physiognomische Aussehen.

 

    Anm. :
    1) Schon 1609 schrieb Johannes Kepler sein Buch „Traum oder: Mond-Astronomie", eine Traumerzählung über eine Reise zum Mond auf der Basis der neuen astronomischen Kenntnisse. Die Mondmenschen („Seleniten“) betrachten da die Erde so, wie die Erdmenschen den Mond betrachten. Der astronomische Blick von Galilei Galileo machte den Himmel zu einem gewöhnlichen geografischen Ort und raubte der Kirche letztlich ihr „Jenseits“.
    Die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne erschien 1864 als Buch.  
    „Die ersten Menschen auf dem Mond“ ist ein Roman des britischen Schriftstellers Herbert George Wells. Das Buch wurde zum ersten Mal 1901 unter dem Titel The First Men in the Moon veröffentlicht.

 

    Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf  www.medien-gesellschaft.de    u.a. folgende Texte:

    Die Anfänge der Fernsehkultur  
    M-G-Link
    Die Anfänge der westdeutschen Fernseh-Demokratie  
    M-G-Link
    TV-Realität: Fern-sehen, Dabei-sein - Fernsehen als Erweiterungsraum der Lebensrealität  
    M-G-Link
    Joshua Meyrowitz oder: Fernsehgesellschaft. Wie das Fernsehen die Gesellschaft veränderte  
    M-G-Link 

    Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze  
    M-G-Link
    Mediale Fiktion - Bausteine der menschlichen Kultur  
    M-G-Link  

    Das Gehirn spinnt Sinn  - Gehirngespinste  
    M-G-Link
    Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares  
    M-G-Link
    Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung  
    M-G-Link 
    Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden    
    M-G-Link
    Bild  gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder   
    M-G-Link

    Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes  
    M-G-Link
    Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur 
    M-G-Link
    Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie   
    M-G-Link
    Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource   
    M-G-Link