Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

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2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
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 Schriftkultur im Mittelalter 

9-2011

 „Körpergebundene Erinnerung, Schrift, Druck
und elektronische Datenverarbeitung sind
Medien einer ‘mémoire collective’,
die nicht nur Wissen transportieren,
sondern auch das Denken selbst verändern.“

Horst Wenzel

Mit der Zerstörung der antiken Kultur ging im westlichen Mittelmeerraum für Jahrhunderte auch die gesellschaftliche Nutzung der sekundären Kommunikationsmittel (Schrift und Bild) zurück. Man nennt diese Phase das europäische frühe Mittelalter. Unter dem Gesichtspunkt, dass der „Sieg” des Christentums als Staatsreligion im Übergang zum Mittelalter mit dem Ende einer tausend Jahre alten Hochkultur einherging, ist dieser Prozess selten beleuchtet worden. Von historischen Episoden wie der „karolingischen Renaissance” abgesehen wurden die Fäden zum Erbe der Antike erst seit dem 11. Jahrhundert - von der Kirche oftmals mit inquisitorischem Feuereifer bekämpft - systematisch und nachhaltig wieder aufgenommen.

Die Gesellschaft des frühen Mittelalters war fast ausschließlich oral organisiert. Schrift-Zeichen wurden wie besondere Bild-Zeichen kommunikativ genutzt (siehe den Text über Schrift-Magie Link) - und das nicht in der breiten Bevölkerungsmehrheit, sondern auch in den profanen und klerikalen herrschenden Kreisen. Die Angehörigen des Adels, also Fürsten, Herzöge und Ritter, konnten in der Regel weder lesen noch schreiben; für schriftliche Dokumentation hatten sie ihre Schreiber.

Aus der alten lateinischen Umgangssprache, deren sich zum Teil auch die Komödie und Cicero in seinen intimeren Briefen bedient haben, entstand das „Vulgärlatein“. Man nennt das auch „Reiselatein“: Die komplizierten Endungen wurden einfach weggelassen, wenn ein Kutscher in einem fremden Land auf Latein ein Bier bestellen wollte. Im etwas anspruchsvolleren Vulgärlatein werden die komplizierten Flexionen durch Präpositionalausdrücke ersetzt (de deo statt dei, wie später ital. di dio, franz. de dieu), das  Perfekt wird zusammengesetzt umgeschrieben (habeo cantatum statt cantavi, wie ho cantato usw.). Einer Schriftsprache wäre das nicht passiert – aber die Schriften spielten offenbar für die Sprachentwicklung eine untergeordnete Rolle. Aus dem Vulgärlatein entwickelten sich vor allem die romanischen Sprachen. „Vulgärlateiner“ verstanden noch Latein, der Italiener heute kann von Hause aus keines mehr. Als im Jahr 813 die Bischöfe auf  dem Konzil von Tours beschlossen, es sollten hinkünftig lateinische Predigten ins Französische bzw. Deutsche (in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam) übersetzt werden, damit jeder sie verstehe, war das Latein von den aus ihm entstandenen romanischen Sprachen unwiderruflich getrennt.

Die Wulfila-Bibel – eine spätantike Episode mit begrenzten Folgen

Der ins Exil (im heute serbischen Nis) vertriebene Westgoten-Bischof Wulfila (311-388) war vermutlich der erste, der versuchte, eine germanische Sprache, und zwar die gotische, in Schriftzeichen umzusetzen. Obwohl die Goten eine Runenschrift besaßen, stellte Wulfila für seine Bibelübersetzung ein Alphabet aus Buchstaben zusammen, die er vor allem dem griechischen Alphabet entnahm. Er gebrauchte auch germanische Runenzeichen und lateinische Buchstaben. Ein Problem für Wulfila war zudem, dass es für manche biblische Ausdrücke und Begriffe einfach keine gotischen Wörter gab. Er weitete darum den Wortschatz auf verschiedene Arten aus:
- durch Sinnübertragung: bestehende gotische Wörter bekamen einen neuen, christlichen Inhalt (z.B. „galga" früher Stange", bekam die Bedeutung Kreuz")
- durch die Formung von Zusammensetzungen und Ableitungen
(z.B. wurde „Altar" durch die Zusammensetzung „hunslastaþs" (= Opferplatz") wiedergegeben)
- durch Gebrauch von Lehnwörtern: er gebrauchte Wörter aus dem Griechischen und Latein (z.B. praufetus = Prophet, aiwaggeljo = Evangelium,...)

Was den Satzbau betrifft, ist Wulfila eng dem griechischen Vorbild gefolgt, so dass wir durch seine Übersetzung kaum etwas über die gotische Syntax erfahren können. Seine Wortschöpfungen waren der Versuch, christliche Konzepte, wie sie insbesondere durch die biblischen Schriften vorgegeben waren, in Kulturen zu übertragen, denen derartiges fremd sein musste.
Wilfilas Bibel ist als Abschrift im so genannten Codex Argenteus erhalten, einer norditalienischen Handschrift aus dem 6. Jahrhundert. Die von Wulfila erfundene Schriftkultur hat keine nachhaltige Wirkung gehabt und ging mit der westgotischen Tradition verloren.
 
Wulfila

 

 

 

Seite aus dem
Codex Argenteus

Rest eines Evangeliars in gotischer Sprache.
Der ursprünglich mindestens 336 Blätter umfassende Codex ist mit silber- und goldfarbener Tinte auf purpurfarbenes Pergament geschrieben.
Der Codex enthält Teile der vier Evangelien als Abschrift der gotischen Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila (311–383) und zählt zu den ältesten schriftlichen Zeugnissen einer germanischen Sprache.

Der Codex wurde um 500 in Norditalien geschrieben.

 

 

 

 

I  - Das lateinische Mittelalter

Linguistisch gesehen beginnt das „lateinische Mittelalter” dort, wo das Latein auch in dem Sinn tot ist, dass es endgültig niemand mehr von seiner Mutter lernt. Man lernte es in den Klosterschulen und tradierte die lateinischen Schriften. Die Literalität beschränkte sich weitgehend auf den Klerus, der den Texten ein eigenes theologisches Interesse entgegenbrachte. Die gesamte Schreibpraxis des Mittelalters lag in den Händen des Klerus; er stellte die Schreiber in den fürstlichen und städtischen Kanzleien.

Das war eine eigene, abgeschlossene Bildungstradition. So wenig das kultivierte Latein die Sprache des Volkes beeinflussen konnte, so selten kamen die wenigen Latein-kundigen Schriftgelehrten auf die verrückte Idee, die alltäglichen Sprachlaute des Volkes mit den lateinischen Buchstaben auf teurem Pergament zu fixieren. Warum auch. Das lateinische Alphabet war über Jahrhunderte nicht einmal dazu benutzt worden, das Vulgär-Latein niederzuschreiben, das wirklich gesprochen wurde.

Die Schrift war eine Sache der Klöster und das Lesen eine komplizierte Sache. Die Schriften wurden, auch im Kloster, vor allem vorgelesen, selbst Lesekundige „murmelten" sie sich vor, immer wieder dieselben Schriften, die sich wie Liturgie über die Sprechmelodie einprägten. Der Murmler „hörte dem Buch hauptsächlich zu, er lauschte dem Buch, wenn er sich selbst vorlas" (Ivan Illich).

Es gab klösterliche Anweisungen, im gemeinsamen Schlafsaal nicht die Bibel laut zu lesen, weil dann die anderen nicht schlafen konnten. Schrift eben als ein Hilfsmittel für das Gedächtnis. Viele Mönche konnten große Teile der Bibel weitgehend auswendig. 

Isidor von Sevilla (6. Jh), einer der wichtigsten Gelehrten des frühen Mittelalters, schrieb auf Latein. Er nutzte die Literatur zur Vermittlung des Wissens der Antike. Er betrachtete, seiner Zeit weit voraus, die Buchstaben des Alphabets im Gegensatz zu Aristoteles als Zeichen ohne innewohnenden Klang, die die Kraft haben, uns leise die Aussagen der Abwesenden zu vermitteln. Schrift war für ihn nicht mehr bloße Repräsentation des gesprochenen Wortes, sondern konnte direkt an den Verstand des Lesers gerichtet sein. Nach Isidor erlaubte das stillen Lesen eine bessere Reflexion der Inhalte und macht die Bindung an die Erinnerungsfähigkeit weniger wichtig. Die Interpunktions- und Notationszeichen sind für ihn nun erstmals nicht mehr nur Hilfe zum Vorlesen, sondern erfüllen eine grammatikalisch-syntaktische Funktion. Dieses System sollte den Lesern bei der Analyse des geschriebenen Lateins helfen, das weithin die Sprache der Bibel und die „Lingua Franca“ (Verkehrssprache) des Lesens war.

Isidor übernimmt zum Beispiel die lange nicht mehr verwendeten antiken Punkte auf verschiedenen Höhen (Distinctio, subdistinctio und media destinctio), die jetzt nicht mehr nur einfach Pausen verdeutlichten, sondern eine syntaktische Funktion übernehmen, die er comma, colon und periodus nennt – Bezeichnungen, die sich zum Beispiel im Englischen bis heute erhalten haben. Außerdem entwickeln sich neue Zeichen, um Absätze und Zitate kenntlich zu machen. Trotz der vielen Leseerleichterungen, die Isidor schafft, sind Wortabstände auch in seinen Texten nicht vorhanden.

II   „Karolingische Renaissance”

Karl der Große, seit 768 König der Franken, seit 800 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, war ein großer Bildungsreformer. Die „karolingische Renaissance“ war eine höfisch-klösterliche Bildungsanstrengung, die ihre Motive offenbar der Herrschaftskommunikation  hatte, ohne besondere soziale Verankerung und somit ohne nachhaltige gesellschaftliche Wirkung. Er sorgte dafür, dass wieder echtes Latein im Anschluss an die spätlateinischen grammatici Latini gelernt wurde (vor allem von den clerici); er machte somit Latein zur standardisierten Sprache der Gebildeten - was es bis ins achtzehnte Jahrhundert blieb. Dafür holte er gelehrte Hilfe aus dem Norden, aus Schottland und Irland. Dort hatte sich, geschützt vor den Stürmen der Völkerwanderung, ein geordneter Lateinunterricht gehalten; dort war Latein schon bisher echte Zweitsprache neben der jeweiligen Muttersprache gewesen. Das diente als Vorbild für den Kontinent.

Karl der Große nutzte Sprach-Politik als Machtpolitik. Die Aufgabe der Erhaltung des kollektiven Gedächtnisses wurde von lateinisch schreibenden Hofberichterstattern übernommen. Durch die schriftlich fixierte Wahrheit wird die soziale Rolle der traditionellen Sängers abgewertet: Die Überlieferung der Geschichten der Ahnen wurde die Aufgabe der Schriftgelehrten und die Sänger darauf reduziert, diese Wahrheiten unterhaltsam vorzutragen. „Der Kampf zwischen schriftlicher Wahrheit und gesungener Wahrheit hat die Zeit der Karolinger geprägt. Die Sänger wurden verfemt. Sie standen von der Zeit Karls des Grossen bis im Hochmittelalter außerhalb der Gesellschaft. Sie waren un-ehrlich. Sie hatten keine ‚êre’.“ (Urs Boeschenstein) 

Karl der Große gab den Auftrag, christliche Schriften - und auch populären, christlich übertünchten Geschichten nach heidnischen Erzähl-Stoffen! - in der Sprache seines Volkes zu verfassen. Der Mönch Alkuin (735-804), ein angelsächsischer Gelehrter und Geistlicher, entwickelte als Abt des Klosters Sankt Martin in Tours, eine klare Schrift in Kleinbuchstaben, die karolingischen Minuskel, um im gesamten Frankenreich über eine einheitliche Buch- und Verwaltungsschrift zu verfügen. Die karolingische Minuskel zeichnet sich durch Klarheit und Einfachheit des Schriftbildes aus.

Um 830 entstand im Umkreis des Erzbischofs Hrabanus Maurus in Fulda die althochdeutsche Übertragung des „Tatian“ als gemeinschaftliche Übersetzungsarbeit der lateinischen Vorlage - der syrische Kleriker Tatian hatte bereits im 2. Jahrhundert eine Evangelienharmonie zusammengestellt. Die wurde im germanischen Raum für die Missions- und volkssprachige Kirchenpraxis genutzt, bevor die allmähliche Rezeption des Synodalbeschlusses von Inden (819) generell das Lateinische zur liturgischen Sprache erhob.

Ludwig der Fromme (778-840), Karls Sohn, ließ das Alte und Neue Testament in die sächsische Sprache übersetzen („Heliand“). Das Neue Testament ist fast vollständig vorhanden. Nach altgermanischer Auffassung erscheint Christus als Volkskönig, die Apostel als Gefolgsmannen, israelitische Städte werden als sächsische Burgen dargestellt. Epische Formeln, schmückende Beiwörter und stabreimende Langzeilen sind Erinnerungen an die alte Heldenpoesie. Was dem germanischen Empfinden noch fremd war (z.B. Feindesliebe) wurde „mundgerecht“ für das Volk aufbereitet.
Gleichzeitig wurden von Ludwig dem Frommen viele Früchte des „Kulturprogramms" Karls des Großen zunichte gemacht. Er war ein primitiver christlicher Eiferer, der viele Aufzeichnungen von Volkssagen und anderem germanischen Erbe zerstören ließ.

Auch aus einem anderen Grund sind viele der Dokumente dieser Zeit verloren gegangen: Das Beschreibmaterial, aus Tierhäuten hergestelltes Pergament, war sehr teuer und wurde oftmals wiederverwendet, indem man ältere Texte, die man nicht mehr verstand oder für unwichtig hielt, von der Oberfläche wegkratzte. Auch wurden Textblätter miteinander verklebt, um daraus Einbände für neue Bücher zu machen. Manchmal sind Bruchstücke von uralten Abschriften, von römischen Autoren wie von althochdeutschen Werken, in Buchdeckeln späterer, weit wertloserer Bücher gefunden worden.

Im Kloster zu Fulda wurde um 830 ein germanisches Heldenlied, das „Hildebrandlied", von zwei Mönchen aufgeschrieben - eines der ältesten Zeugnisse der Verschriftlichung der ostfränkischen Mundartformen. Es hat auf der inneren Umschlagseiten einer lateinischen theologischen Handschrift überlebt. Da „hat wohl ein Niederdeutsch Sprechender, der kein Hochdeutsch konnte und besonders über die Bedeutung des Buchstabens 'z' sich im Unklaren war, im Kloster Fulda um 800 eine hochdeutsche Vorlage in grauenerregender Weise abgeschrieben", sagt der Sprachhistoriker Adolf Bach. Immerhin.

Am Ende des 9. Jahrhunderts, am Ende der Dynastie der Karolinger, versiegte der bis dahin ziemlich reichliche Strom der althochdeutschen Literatur. Aus karolingischer Zeit sind einige, auch lange, Texte erhalten, aus dem 10. Jahrhundert fast nichts mehr. Die universalistische, auf Italien gerichtete Politik der sächsischen Herrscherdynastie der Ottonen (regierten im Heiligen Römischen Reich von 919–1024) sorgte dafür, dass man in Deutschland wieder fast ausschließlich lateinisch schrieb.

III   Wer redet, macht keine Pausen zwischen den Worten

Schrift hatte im Mittelalter die Funktion, das Gesprochene zu konservieren, Geschriebenes wird fast ausschließlich mündlich wiedergegeben – entweder von geübten Erzählern oder von Schauspielern, die den ihnen bekannten Text vorlesen.  Wenn eine Person Texte allein las, tat sie dies zumindest murmelnd. Das lautlose Lesen war zu dieser Zeit nahezu unbekannt. 

Wortabstände waren bei den frühen silbischen und alphabetischen Schriftsystemen des Mittelmeerraumes die Ausnahme. Die persische Keilschrift oder das Phönizische kannten Wort-Trenner oder einfache Interpunktionszeichen wie etwa ein Satzschlusszeichen, die Griechen nicht - mit der Übernahme des phönizischen Alphabets durch die Griechen und der Hinzufügung der Vokale war es zu einem gravierenden „Rückschritt“ in der Entwicklung der Interpunktion gekommen: Das neue griechische Alphabet war nun soweit komplettiert, dass die Griechen den Worttrenner nicht mehr für nötig hielten.
Dabei war eine stärkere visuelle Gliederung eines Textes denkbar, wie untenstehendes Faksimile aus dem Stadtgesetz von Málaga aus dem 1. Jh. u.Z. zeigt – offenbar wurde das für die normalen Schrift-Texte aber nicht für erforderlich gehalten. Genauso wie es leises Lesen gab – aber nur als besondere Ausnahme.

Stadtgesetz-von-Malaga
Die römischen Stadtgesetze waren oft in Stein gehauen oder in Erz gegossen, öffentlich sichtbar.
 Im Unterschied zu den üblichen Lesetexten, die das phonetische Nacheinander der Sprache in einem ungegliederten linearen Nacheinander der Zeichen wiedergeben, hatten die Gesetzestexte visuelle Gliederungen.
Jeder der Abschnitte hatte eine rubrica, einen mit einem „R“ angekündigten und in dem Stein rot ausgelegten Titel. Am Rand standen Randnummern. Vorangestellt war dem Gesetz ein Verzeichnis der Rubriken.
Diese offensichtlich vorhandenen Möglichkeiten der Zweidimensionalität des Schriftträgers, die Textstellen für alle halbwegs Lesekundigen schnell auffindbar machten,  sind in der „normalen” Entwicklung der lateinischen Schrift
erst tausend Jahre später zur Norm geworden.

DASOHRLIESTNICHTDASAUGE. Das Schriftbild fließt wie die Sprache. Es war trotz der gestiegenen Literalität keineswegs üblich, dass ein Großteil der Bevölkerung selbstmotiviert und eigenständig lange Texte las. Man delegierte das Lesen zum Beispiel an Sklaven, die als professionelle Vorleser und Schreiber agierten. Die Wortabstände für die Pausen sind Anzeichen einer optischen Decodierung des Satzes. Sie kamen im Mittelalter nicht aus dem Phönizischen nach Europa, sondern aus Irland. InterpunctDie Römischen Schreiber benutzten zunächst den so genannten Interpunct als Wort- Trenner. Beim Schreiben – zum Beispiel auf Papyrus – wurde dieser Punkt, meist ohne jeglichen Wortabstand, zwischen die Buchstaben eingestochen, woher die Bezeichnung Interpunktion (lateinisch interpungere: „dazwischenstechen“) rührt.
Als sich in Irland der christliche Glaube langsam durchsetzte, wurde auch die lateinische Sprache, in der die Bibel verfasst war, von den Iren immer besser studiert. Da das Irische aber nicht zu den romanischen Sprachen zählt, betrachteten die Iren das fremde Latein in den Büchern eher als visuelle Sprache zur Übermittlung von Texten und unabhängig von dessen ursprünglicher Aussprache. Aus diesem Grund waren sie die ersten, die bestimmte grafische Konventionen entwickelten, um den Zugang zu den Informationen einer Textseite zu erleichtern.

Ende des 7. bis Anfang des 8. Jahrhundert kopierten die Iren die originalen lateinischen Texte zunehmend nicht mehr in Scriptio continua, sondern führten erstmals wieder Wortzwischenräume ein. Außerdem betonten sie die grammatischen Strukturen einen Satzes durch Interpunktionszeichen, die sie in ihren lateinischen Büchern vorfanden. Dabei entwickelten die irischen Schreiber ein hierarchisches Ordnungsprinzip, das den griechischen Distinctiones ähnelt, diese aber nun durch Gruppierung und nicht mehr durch unterschiedliche Positionen verdeutlicht.  Die irischen Schreiber entwickelten auch den littera notabilior, eine Art Initiale in einer anderen Schriftart, die den Beginn eines Textes oder Abschnittes betonen. Darin verdeutlicht sich, dass die irischen Schreiber Dekoration und Interpunktion erstmals als zusammengehörig empfanden, da beide der Präsentation und visuellen Verständlichkeit des Textes dienen. 
Bis dahin musste ein Mönch im Scriptorium immer laut vorlesen, rund um ihn herum saßen andere, die schrieben. Nun konnte man leise lesen, mit den Augen erfassen. Die Unterscheidung von Klein- und Großbuchstaben erleichtern das optische Erfassen einer Schrift. Es wurden die i-Punkte erfunden.

Schrift hat in einer dominant oralen Kultur weniger Verankerung als in einer „typografischen“ Kultur.  Wissen kann verloren gehen, die gesellschaftliche Bedeutung von Schriften kann über Jahrhunderte abnehmen. Im Mittelalter ist Schriftlichkeit von Spezialisten (Ordensklerus) monopolisiert. Kommunikation ist vorwiegend unmittelbare Interaktion unter Anwesenden; Herrschaft ist auf persönliche Präsenz angewiesen; Verbindlichkeit stiften rituell-demonstrative Formen des Handelns. Das überlieferte antike und christliche Wissen wurde in Klöstern und Domschulen in handgeschriebenen Codices aufbewahrt und durch Abschreiben, Kompilieren, Kommentieren und Glossieren fortgebildet. Kein Manuskript ist mit dem anderen völlig identisch. Wichtige Kenntnisse – etwa geografische Karten - werden als Geschäftsgeheimnis betrachtet. Schriften werden im Grunde in „Bilderschrift“ abgemalt, auch der Kodex war ein Bildband voller Schriftzeichen. Fritz Mauthner spricht von „Buchmalerei“, um die Differenz deutlich zu machen.

Schriftlich fixierte Geschichten sind im Mittelalter meist mehr Botschaft als Bericht. Am Beispiel des Todes von Wilhelm des Eroberers (1087) lässt sich das verdeutlichen. Es gibt zwei Berichte über diesen Tod. Der erste, anonym, schildert die Vorbereitung auf den Tod, die Verteilung des Erbes. So könnte es gewesen sein. Aber der Bericht ist fast wörtlich von einem analogen Bericht über den Tod von Ludwig dem Frommen abgeschrieben – der Sinn des Berichtes: Wilhelm sollte in dessen Tradition gestellt werden.
Der zweite Bericht von Ordericus Vitalis ist etwa 1130 aufgeschrieben worden, also 40 Jahre nach dem Tod Wilhelms. Er schildert eine schier unglaubliche Verkettung von Unglücken, die mit dem Leichnam passieren – bis dahin, dass das Grab zu klein ist und beim Hineinstampfen des Leichnams dieser aufplatzt, wobei die Köstlichkeiten, die Wilhelm verspeist hatte, als stinkende Suppe zum Vorschein kommen. Ein poetischer Text, nachweislich falsch, der offenbar einen religiösen Sinn verkünden soll. Auf keinen Fall ein Bericht über wirkliches Geschehen. Man muss davon ausgehen, dass zeitgenössische Leser solche Berichte auch nicht wörtlich nahmen, sondern allegorisch.

Im Mittelalter war die mündliche, orale Kommunikation noch die normale. Schrift war eine Kultur der Klöster und im gesellschaftlichen Leben vor allem ein Mittel, um das Gedächtnis zu unterstützen und Verabredungen mit Hilfe von Zeichen (Dokumenten) zu besonderer Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Aber auch ein Friedenspakt zwischen Herrschern konnte durch einen Kuss auf den Mund besiegelt werden - ein Bild, das beide Herrscher in einem Bett schlafend zeigte, „bewies“ den Friedenspakt und die entstandene (politische) „Liebe“ zwischen den Herrschern. Schriftdokumente waren in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nachgeordnet und gehörten zu den Kulturtechniken besonderer Berufsstände. 

Informationen für das breite Volk wurden von fahrenden Spielleuten verbreitet, oft auch singend. Wo Lieder später schriftlich festgehalten wurden, konnten die Namen der Spielleute erhalten bleiben – etwa Walther von der Vogelweide. Im 14. Jahrhundert entwickelt sich der Begriff der "Zeitung" im Kölner Raum aus dem „zidunge", das für (mündlich verbreitete) „Nachricht", „Neuigkeiten“ stand. Wer bei der Zeitung arbeitete, war ein „Zeitunger". Der Wortstamm findet sich im auch angelsächsischen „getidan", was „sich zutragen", „sich abspielen" bedeutet. 
Den Bedarf an „Ferninformation“ gab es vor allem bei den Herrscherhäusern und bei Kaufleuten. So wurden wirtschaftliche Informationen an den Handelsplätzen (insbesondere  Hafenstädten) auf Flugzetteln verbreitet, die in Italien „avvisi“ und in deutschsprachigen Ländern „zidunge“ genannt wurden.

IV Schrift und Bild

Die Nachrichten waren (fast) immer mit Bildern illustriert, Schrift und Bild zusammen hatten im Mittelalter die Aufgabe der Vergegenwärtigung und Verlebendigung. „Das Hören ist von der Vorstellung des Sehens noch nicht abgekoppelt, weil grundsätzlich das Ohr das Auge orientiert und das Auge das Ohr unterstützt.“ (Horst Wenzel) Schrift ist für Menschen, die nicht lesen können, eine besondere Form von „Bild“ - Bilder sollen nicht nur zeigen, sondern auch erzählen. Schrift lebt dadurch, dass sie laut vorgelesen und zu Gehör gebracht wird.

Das Bild stellt vor Augen, was die Schrift benennt, und was die Schrift benennt, wird anschaulich durch das gemalte Bild. „Das Bild wird zur akustisch erfüllten Szene, wenn der Text gelesen wird.“ Wenzel verweist darauf, dass die antike Vorstellung von der Präsenz des Dargestellten im Gottes- oder Kaiserbild im Mittelalter fortlebt. Es gibt zahlreiche Berichte von wundersamen Bildwerken, die menschliche, also lebendige Reaktionen zeigen und darin ihre materielle Natur überschreiten. Auch der Text ermöglicht in diesem „sinnengeschichtlichen“ Kontext eine unmittelbare medialen Erfahrung, eine Begegnung, die alle Sinne stimuliert und „ein Verlangen, das schauen, aber auch anfassen, fühlen, spüren will, wofür das Bildnis steht.“ Das war eine ganz andere Wahrnehmung von Schrift als die im Zeitalter der Buchkultur.

Wenzel macht an dem beliebten Kindervers deutlich – Kinder, die nicht durch die Schule der Alphabetisierung und Buchkultur gegangen sind, „lernen“ noch ganz unbekümmert körper- und bildbetont wie unsere Vorfahren im Mittelalter.

Das ist der Daumen.
Der schüttelt die Pflaumen.
Der hebt sie auf.
Der bringt sie nach Haus.
Der ißt sie alle, alle auf.

„Charakteristisch für die gedächtnisgestützte Aufführung sind:

1. Der einfache syntaktische Parallelismus (das ist, der schüttelt, 
    der hebt, der bringt, der ißt);
2. Reim und Rhythmus der Sprache;
3. Die Einbindung des Körpers in die Aufführung des Textes durch Gestus, Mimik und Gebärde (Sensomotorik); der Sprecher wird zum Darsteller;
4. Die Verbindung von Hören und Sehen: Die wörtliche Rede verbindet sich mit dem Schaubild der linken Hand, die Hand symbolisiert den ganzen Text, jeder Finger einen Satz, die Abfolge der fünf Finger strukturiert die semantische, aber auch die zeitliche Sequenzierung der Aufführung;
5. Die Transformation von Zeit und Raum: Die Erzählung des Textes in der Dimension der Zeit  verdichtet sich zu einem Memorialbild, das aus dem Gedächtnis heraus in eine Erzählung zurückverwandelt werden kann;
6. Die Anthropomorphisierung: Das Schaubild der Hand verbindet sich mit der Vorstellung von fünf Akteuren, die gemeinsam agieren, aber durch ihre spezifischen Tätigkeiten alle individualisierbar sind.“ (Wenzel)

Schrift übernimmt im christlichen Mittelalter in besonderen gesellschaftlichen Kontexten in eingeschränktem Umfang eine Hilfsfunktion für das körpergestützte Gedächtnis.

 

    s.a. die Texte

    Erfindung der Alphabetschrift  M-G-Link
    Schrift-Magie und Bibel-Orakel -
    zur kommunikativen Funktion von Schriftzeichen 
                           im christlichen Mittelalter  
     Link
    Bild-Magie: Kultbild-Verehrung   Link
    Klösterliche Lesepraktiken als  Kommunikation der Seele mit Gott   Link
    Lese-Revolution im Hochmittelalter (Chartier)   Link
    Vor Gutenberg  - „Verschriftlichungsrevolution” als Vorbereitung des Buchdrucks Link
    Wort, Bild und Körper in der
     „Anwesenheitsgesellschaft“ (Schlögl) Link