Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Empedokles oder:
Erkennen ist kugelrund

Über Mythos und Logos im vor-sokratischen Denken

2014

Empedokles, der aus einer sizilianischen Adelsfamilie stammende griechische Philosoph des 5. Jahrhunderts (ca. 485-435), ist einer der letzten großen „vorsokratischen“ Denker. Überliefert von ihm sind 500 Verse aus zwei Lehrgedichten, „Peri physeôs“ über die Natur und „Katharmoi“ über die „Sühnungen“. Diogenes Laertios kannte im 3. Jahrhundert noch 5.000 Empedokles-Verse.
Empedokles Fragment der PhysikaDie Vers-Form und der Stil der Verse zeugen vom formalen und inhaltlichen Stil der oralen Kultur. Diese oralen Verse wurden schriftlich fixiert - jedenfalls die, die erhalten sind.
„In ihm ringen die beiden Zeitalter“, schrieb Friedrich Nietzsche. Empedokles gefiel sich in seinen rhetorischen Ambitionen und stellte sich als sprachschöpferisches Genie dar. Die Verse präsentieren eine weltverstehende Rede, sie „argumentieren” nicht im sokratischen Sinne, sie kennen kein Abwägen möglicher Erkenntnis, keinen Verdacht des Irrtums, sind also „mýthos“ im ursprünglichen griechischen Sinne. Die Hörer sollen beeindruckt werden vom Gesang der Rede, nicht überzeugt von Argumenten. Empedokles hat sich offenbar selbst als Erscheinung der göttlichen Sphäre verstanden und mit seinem Naturdenken als wunderheilender Arzt präsentiert.

An die Stelle des archaischen Denkens, das leibnahe Kräfte als wirkende Ursachen unterstellt, tritt bei Empedokles wie bei seinem Zeitgenossen Demokrit eine Liebe zu abstrakten Erkenntnis-Urformen - als Formen der Wahrheit gelten nur  kreisrunde oder dichotomische Muster.

Fragment der Peri physeôs 

Und mit diesen abstrakten Begriffen konstruiert Empedokles ein physikalisches Erklärungsmodell der kosmischen Naturphänomene, die er in seiner dichterischen Sprache mühelos mit Bezügen auf die tradierte Götterwelt in eins setzen kann. Seine Lehrgedichte über die Natur und die „Sühnungen“ befassen sich mit der Frage der Weltentstehung und der Ordnung des Weltalls. Für ihn gibt es vier „Verwurzelungen“ alles Seienden, vier „rhizomata“. Seine Lehre von den vier „Wurzelkräften“ Feuer, Wasser, Erde und Luft lieferte die Grundlage für die Physik des Aristoteles. Unter dem von Aristoteles geprägten Begriff der „vier Elemente“ prägte dieser Gedanke mehr als tausend Jahre das kosmologische Denken. „Die Vier Wurzeln von allem höre zuerst: Zeus, der gleißende, und Hera, die Lebensbringende, sowie der Unsichtbare (Hades) und Nestis, die aus ihren Tränen sterblichen Quell entspringen läßt.“ Aus den Vermischungen und Trennungen dieser vier „Wurzeln“ rühren die Erscheinungsformen des Lebens her. Insofern gibt es letztlich kein Nichts, kein Entstehen und Vergehen, sondern nur Wandlungen.

Die „Verwurzelungen“ sind und unvergänglich und können nicht auf einen einzigen Urstoff zurückgeführt werden, sie weisen eine konstante Gesamtmasse auf. Mischungen der Urelemente erscheinen der sinnlichen Wahrnehmung als Eigenschaften physischer Objekte.

Empedokles beschreibt die Ursache der Vermischungen als Wirkung von Kräften, von denen es zwei entgegengesetzte gibt, philótēs  - Liebe, Freundschaft, die  eine anziehende und vereinigende Kraft und neíkos (Streit), die abstoßende und trennende. Steht die Liebe auf dem Höhepunkt ihrer Macht, dann ist die Gesamtmasse der vier Elemente zu einem einzigen, kugelförmigen Lebewesen, dem göttlichen Sphairos, vereint. Aus dem Kampf dieser Kräfte erklären sich nicht nur die Naturvorgänge des Universums, sondern auch die menschlichen Schicksale.

Offensichtlich war schon dieses vorsokratische Denken getragen von der Wertschätzung abstrakter Ideen wie der des Kreises oder der des dualen Gegensatzes, die Reduktion der verwirrenden sichtbaren Phänomene auf solche einfachen Ideen-Muster wurde als „Erkenntnis“ akzeptiert - wenn sie rhetorisch brillant vorgetragen wurde.
Auch an die Stelle der üblichen anthropomorphen Gottesvorstellungen setzt Empedokles eine abstrakte Idee: Der göttliche Sphairos ist kugelförmig, denn die Kugel ist die vollkommene Gestalt. Bei dem Kugelgöttlichen ist alles Existierende eins mit sich, in dem göttlichen Ruhezustand sind die Verwurzelungen gleichmäßig vermischt. „Da breiten sich nicht von einem Rücken zwei Arme aus noch sind da Füße oder schnelle Knie oder zeugende Glieder, sondern es war ein Sphairos, von allen Seiten sich selber gleich.“

Streit schafft Unordnung und Chaos, die Liebe vereint. Aus dem Kreislauf des Wirkens der beiden Urkräfte ergibt sich ein quasi naturgesetzlicher Kreislauf der Geschichte. Berührung des Ähnlichen erweckt die Empfindung der Lust, Berührungen des Entgegengesetzten hemmen das Lebensgefühl, erzeugen Unlust.

Empedokles kann mit seinem Modell die Geschichte des Kosmos erklären, die leuchtenden Himmelskörper sind für ihn Zusammenballungen des Feuerstoffs, er wusste schon, dass der Mond das Licht des Sonnenfeuers reflektiert.
Auch die Entstehung einer Vielfalt belebter Körper kann Empedokles mühelos in sein hinreichend komplexes Gedankensystem einfügen: Lebewesen sind spezifische Gemische aus den vier Elementen, die allmählich und aufeinander aufbauend entstehen. Die Entwicklung geht von einfacheren zu höheren Formen - bis der Hass die Entwicklung wieder umkehrt: „Bald kommen wir in Liebe zusammen zu einer harmonischen Einheit, / bald auch bewegen sich die einzelnen Elemente wieder auseinander im Hasse des Streites.“
Tieropfer lehnte Empedokles ab, das Töten und der Verzehr von getöteten Tieren galt ihm als „die größte Befleckung“ – Gewaltlosigkeit ist sein Ideal auch gegenüber der Tierwelt. Wer ein Tier schlachte, laufe Gefahr, einen in diesem Tier neu inkarnierten Vorfahren zu töten.

Selbst die Frage, wie ein Lebewesen die Objekte um sich herum wahrnehmen kann, erklärt sich für Empedokles mühelos: Sinneswahrnehmungen beruhen darauf, dass von den Dingen Ausflüsse (aporrhoai) ausgehen und in die Poren (poroi) der Sinneswerkzeuge eintreten. Nur Gleiches kann Gleiches erkennen: „Mit der Erde erkennen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser“, und „Je nach vorhandenem Stoffe wächst dem Menschen die Einsicht“. Von der Mischung des Blutes hängt das Denken ab: „Das Herzblut ist Gedanke.“ Die vollkommene Erkenntnis gehört zu der Sphäre des kugelrunden Göttlichen.

Den Anfang der irdischen kann sich Empedokles mühelos als schwere Verfehlung vorstellen, der daímon muss aus der Götterwelt ausgestoßen worden sein, denn das Leben auf der Erde ist eine Strafe. Lebewesen sind schuldig gewordene Götter. In verloren gegangenen Passagen seiner Lehrgedichte „Sühnungen“ schildert Empedokles offenbar, wie auf pflanzliche Daseinsformen tierische und dann menschliche folgen können. Er selbst will bereits einmal Mädchen, Vogel, Fisch und Busch gewesen sein.

Die höchste Stufe erreicht der Mensch als Denker – und wird dadurch gottgleich: „Am Ende aber werden sie Seher, Dichter, Ärzte und Fürsten für die auf Erden lebenden Menschen; von da aus wachsen sie empor zu Göttern, die in höchsten Ehren stehen, die den anderen Unsterblichen Herdgenossen sind und den Tisch mit ihnen teilen, ohne Anteil an menschlichen Leiden und unverwüstlich.“ Die göttliche Fähigkeit zum Denken verbindet den Menschen und das göttliche Kugel-Prinzip Sphairos.  Seinem Schüler erklärte Empedokles: „Ich verkehre unter euch als unsterbliche Gottheit, nicht mehr als Sterblicher." Der Gelehrte war selbstverständlich auch Magier: „Drogen (phármakoi), wieviel existieren als der Übel und des alters Abwehr, wirst du kennen lernen ... Du wirst der unermüdlichen Winde Gewalt zum Stehen bringen, die über die Erde losbrechen und mit ihrem Atem die Äcker vernichten; wiederum, wenn es dir beliebt, wirst du umgekehrt die Winde herbeiführen. Machen wirst du aus dunklem Regen rechtzeitige Trockenheit für die Menschen, machen wirst du auch aus sommerlicher Trockenheit Bäche, baumernährende ... ; du wirst aus dem Hades heraufführen eines verstorbenen Mannes Lebenskraft.“

In dem Hippokrates zugeschriebenen Traktat ,Über die Heilige Krankheit' aus dem späten 5. Jahrhundert wird der Schritt deutlich, der zur Unterscheidung von Mythos und Logos und damit zum klassischen griechischen Denken führt:
„Meiner Meinung nach waren diejenigen, die als erste die Krankheit heilig gemacht haben, Leute wie die Magoi, Reinigungspriester, Bettelpriester und Scharlatane von heute, Leute, die tun, wie wenn sie fromm wären und ein höheres Wissen besäßen. Da sie dieser Krankheit gegenüber versagten und sie nicht heilen konnten, machten sie die Götter verantwortlich, um sich selber zu entschuldigen", heißt es da. Die Scheidung von der Prinzipien von Gut und Böse wird in diesem Hippokrates zugeschriebenen Text konsequent fortentwickelt: „Ich meinerseits bin der Meinung, dass der menschliche Körper von den Göttern - also das Hinfälligste vom Reinsten - nicht verunreinigt werden kann.... Es sind vielmehr die Götter, welche die größten und schrecklichsten unserer Fehler zu reinigen und zu säubern vermögen."

vgl. auch die Texte

    Israel und die Erfindung der monotheistischen Schrift-Religion (Assmann)  Link
    Griechenland und die Disziplinierung des Denkens (Assmann) Link
    Phonetische Schrift und griechisches Denken   M-G-Link
    Die Kultur des Lesens in der griechisch-hellenistischen Welt (Chartier) Link
    Kultbild-Verehrung in der Antike  M-G-Link
    Die Zerstörung der antiken Buchkultur in der Herrschaftszeit des Christentums Link