Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

aus: Roger Chartier und Guglielmo Cavallo: Die Welt des Lesens, Seiten 33-36

Lese-Revolution im Hochmittelalter

Die Jahrhunderte vom ausgehenden 11. bis zum 14. Jahrhundert markieren eine Wende in der Geschichte des Lesens. Die Städte erwachen zu neuem Leben und mit ihnen die Schulen, wo es Bücher gibt – dies im Rahmen einer immer weiteren Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit, einer Zunahme des Geschriebenen auf allen Ebenen sowie der verschiedenen Arten und Zwecke, vom Buch Gebrauch zu machen. Schreibpraktiken und Lesepraktiken, die im Frühmittelalter in gewisser Weise getrennt voneinander waren, »greifen ineinander«, bedingen sich in einer organischen und unauflöslichen Wechselbeziehung gegenseitig. Man liest, um zu schreiben: für die compilatio, die besondere Methode der Scholastik, Werke zu verfassen. Und man schreibt mit Blick auf die Lektüre.

Es wird also viel und auf unterschiedliche Weise gelesen. Das Lesen ist nicht mehr nur auf das bloße Verstehen des geschriebenen Buchstabens (littera) ausgerichtet; dieses Verstehen stellt nur den Anfang dar, von dem man zur Bedeutung (sensus) des Textes überzugehen hat, um dann dessen Sinngehalt (sententia), verstanden als die Lehre in ihrer ganzen Tiefgründigkeit, zu erfassen. Über Bücher und Lektüre muß die ratio die Oberaufsicht führen, die Gesprächspartnerin in Petrarcas Schrift De librorum copia, in der dieser die Manie geißelt, überflüssigerweise Band um Band anzuhäufen, und die Umrisse einer Theorie (aber auch einer Geschichte) des Lesens als einer Praxis zeichnet, welche die Bücher „im Kopf“, nicht „in einem Regal unterbringen“ soll. Dies sind die Grundlagen der scholastisch-universitären lectio, des Vorbilds für eine Lektüre, die tief in das Geschriebene eindringt, einen Kommentar entwickelt und dessen Autorität geltend macht.

Da es für die Lektüre, das Studium, den Kommentar, die Predigt geschrieben wird, nimmt das Buch, oder besser, die beschriebene Seite eine für diese Praktiken funktionale Gestalt an. Die Schrift wird mit Zusammenfassungen durchsetzt, so dass sie sich schneller lesen lässt;  der Raum der Seite wird in zwei eher schmale Spalten unterteilt, so dass jede Zeile in ein einziges Blickfeld passt  und deshalb leichter aufzufassen ist; der Text wird in Sequenzen untergliedert, um das Nachschlagen und das Verständnis zu erleichtern. Kurz: das Buch als intellektuelles Arbeitsinstrument, dessen verschiedene Aspekte der Aufsatz von Jacqueline Hamesse behandelt, ist geboren. Das Buch wird jetzt benutzt, es ist die Quelle, aus der man Wissen oder verschiedene Kenntnisse schöpft, nicht mehr der Hort einer Erkenntnis, die es immer wieder zu durchdenken oder auch nur zu bewahren gelte. Untergliedert durch die komplizierten Einteilungen der geschriebenen Seite, bezieht sich die Lektüre jedoch nicht mehr auf den ganzen Text; sie beschränkt sich auf einzelne Abschnitte. An die Stelle einer umfassenden, konzentrierten und wiederholten Lektüre weniger Bücher tritt eine ausschnitthafte Lektüre der Bücher, in einer Zeit - der Epoche der Scholastik -, die durch eine 'mmense Zunahme von Schriften und die Nachfrage nach einem zwar fragmentarischen,  doch umfangreichen Wissen gekennzeichnet ist. Von bescheidenen Mitteln zur Untergliederung des Textes und der Texte, wie man sie im Frühmittelalter antrifft - die sich im übrigen weniger durch spezielle Zeichen als vielmehr durch die Verzierung und farbliche Abhebung von Initialen, unterschiedliche Schriften und Ornamente auszeichnen -, gelangt man so zu einem regelrechten System von Hilfstechniken für die Lektüre und Buchbenutzung, die auf das statim invenire, praesto habere und facilius occurrere angelegt sind: Rubrizierung, Absatzzeichen, Kapitelüberschriften, organische und in wechselseitiger Beziehung stehende Unterteilung von Text und Kommentar, Zusammenfassungen, Begriffskonkordanzen, Inhaltsverzeichnisse und alphabetisch geordnete Register.

Gleichzeitig wird eine neue Ordnung der Bücher begründet. Mit den Bettelorden entsteht im 13. Jahrhundert auch das Modell einer Bibliothek, die nicht mehr auf Besitzanhäufung und die Konservierung von Büchern zielt, sondern auf das Lesen. Es entsteht ein bibliothekarisches System, dessen Angelpunkt ein Katalog bildet, kein bloßes Inventar mehr, sondern ein Instrument zur Benutzung, das darauf abgestellt ist, den Standort der Bücher in einer bestimmten Bibliothek oder sogar Gegend nachzuweisen, und das memoriale, eine Karteikarte, auf der die entliehenen Bände verzeichnet werden. Architektonisch betrachtet, besteht diese Bibliothek aus einem länglichen Saal, durch den in der Mitte ein leerer Gang führt und dessen Seitenschiffe von zwei parallel angeordneten Tischreihen eingenommen werden; an den Tischen sind die Bücher festgekettet, können jedoch gelesen und studiert werden. Der Grundriss entspricht im wesentlichen dem der gotischen Kirche, und dieser Rückgriff ist weit mehr als bloß architektonischer Art, bekommt in ihm doch die Mentalität zum Ausdruck, die der gesamten Architektur der Gotik zugrunde liegt. Die Bibliothek lässt die Isoliertheit des Klosters oder die Enge der romanischen Bischofskirche hinter sich, wird städtisch und weit, und wie die Kirche zur offen sich darbietenden und benutzbaren Bühne für Bilder, Spitzbögen und Farben geworden ist, so präsentiert sich die Bibliothek als Bühne für das Buch, das dort ausgestellt  und verfügbar ist. Der Rahmen, in dem sich dieses neue Modell von Bibliothek bewegt, ist die Stille: Still ist der Zugang zum Buch, gestört nur durch das beängstigende Rasseln der Kette, mit der es am Tisch festgemacht ist; still ist die Suche nach Autoren und Titeln im Katalog, den man ohne Vermittlung Dritter benutzen kann; still, weil ganz visuell, ist das individuelle und zugleich gemeinschaftliche Lesen.

Paul Saenger widmet sich eingehend den Folgen, die, wenn auch nicht unmittelbar, die ganz besondere und jeder Einmischung entzogene Art des visuellen Lesens für die Gebrauchsweisen des Buchs, für die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins  gegenüber dem geschriebenen Text, für die Entwicklung des Denkens, für die Andachtspraktiken, den Dissens und die Erotik hatte. Wir befinden uns an der Schwelle zur Neuzeit. Und tatsächlich bewirkte die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit unter den Laien im 13. und 14. Jahrhundert, dass  sich zur scholastisch-universitären Lektüre nach und nach andere Modelle hinzugesellten. In diese Zeit fällt die Entstehung des volkssprachlichen, bisweilen vom lesenden Bücherkonsumenten selbst geschriebenen Buchs. Obwohl es ihm nicht an Lesern fehlt, die der offiziellen Kultur verpflichtet sind, kursiert das in der Volkssprache geschriebene Buch vor allem bei einem weltlichen „Bürgertum“, unter Händlern und Handwerkern, die mehr oder weniger solide alphabetisiert, doch des Lateinischen nicht oder fast nicht mächtig waren.

    Auszug aus: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm
    Herausgegeben von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo (dt. Frankfurt, 1999)
    In dem Band finden sich der Aufsätze von
    Jacqueline Hamesse: Das scholastische Modell der Lektüre und
    Paul Saenger, Lesen im Spätmittelalter

 

    siehe zu dem Themenbereich auch meine Texte

    Schriftkultur im Mittelalter Link
    Vor Gutenberg - die Verschriftlichungsrevolution” als Vorbereitung des Buchdrucks Link